Jan Wigger: Musikjournalist für SPIEGEL und Rolling Stone gestorben

Er war ein leidenschaftlicher Musikkritiker: Seinen Helden blieb er treu, die anderen fürchteten sein Urteil. Die Pop-Berichterstattung des SPIEGEL prägte er lange mit. Nun ist Jan Wigger tot, er wurde 50 Jahre alt.

jan wigger: musikjournalist für spiegel und rolling stone gestorben

Musik nahm Jan Wigger persönlich. Auf schlechte Musik konnte er mit langen Schimpftiraden reagieren. Gute Musik brachte ihn ausdauernd ins Schwärmen. Eine solche Leidenschaft ist eine glänzende Voraussetzung, um als Musikkritiker zu reüssieren. Bei Jan Wigger kam noch ein enzyklopädisches Wissen und ein Gespür für die Sprache hinzu, geschult durch die »Übertreibungskunst« des Thomas Bernhard.

Jan Wigger, 1973 in Aachen geboren, kam in den Neunzigerjahren nach Hamburg, jobbte für das Independent-Plattenlabel L’Age d’Or und fing an, für den deutschen »Rolling Stone« zu schreiben. Außerdem begeisterte er Indie-Fans als DJ, bei seinem »Pretty Things«-Abend im Hamburger Klub Grüner Jäger.

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Von 2001 an verfasste er Texte für SPIEGEL ONLINE, nach einigen Einzelrezensionen wurde er im Herbst zum wöchentlichen Chronisten der CD-Neuerscheinungen – anfangs allein, später gemeinsam mit Andreas Borcholte.

Wiggers Kritiken waren einflussreich, eine Band wie Die Nerven oder der Sänger Dagobert beispielsweise, die Wigger sehr lobte, wurden auch durch seinen Zuspruch groß. Von PR-Prosa und Hypes ließ sich Jan Wigger selten beeindrucken, jungen Bands empfahl er: »Richtige Feinde suchen (Die Amigos, Nena, Bully Herbig)«.

Lange vor der TV-Renaissance der Kaulitz-Brüder schrieb Wigger eine Ehrenrettung von Tokio Hotel.

In seinen Kolumnen ging es um mehr als nur Musik

Wer mit so viel Leidenschaft lobte und verriss, war beim Publikum natürlich nicht unumstritten. Wigger wusste das und thematisierte es auch. Im »Rolling Stone« schrieb er: »Die Leserreaktionen der letzten elf Jahre überraschen nicht – bei Zustimmung wird geschwiegen, bei Ablehnung der oft drastisch formulierte Rauswurf des Rezensenten verlangt.« Er sehe »keinen Grund, den Leser in meinen Kritiken auf irgendeine Art zu ›informieren‹: In einer Kolumne sollte es immer um mehr gehen als nur Musik«.

Neben den »Abgehört«-Kritiken schrieb Wigger für SPIEGEL ONLINE gemeinsam mit Thorsten Dörting und dem heutigen »Rock Hard«-Chefredakteur Boris Kaiser die Metal-Kolumne »Amtlich« und stellte in der Kolumne »Wiggers wundersame Welt« Obskuritäten aus der Musikgeschichte vor. 2014 endete seine Mitarbeit aus gesundheitlichen Gründen.

Am Dienstag wurde bekannt, dass Jan Wigger vor einigen Tagen gestorben ist. Wie sein Vater dem SPIEGEL mitteilte, geht die Polizei davon aus, dass eine schwere innere Erkrankung die Todesursache war. Jan Wigger wurde 50 Jahre alt.

SPIEGEL-Redakteur Andreas Borcholte, der Jan Wigger 2001 als freien Autor zu SPIEGEL ONLINE holte und ihn mit der Kolumne »Abgehört« betraute, sagt:

»Ich kannte niemanden, der leidenschaftlicher und kenntnisreicher über Musik diskutieren und schreiben konnte als Jan. Zwischen Ende 2001 und Ende 2014 besprachen wir jede Woche, welche neuen Platten er für unsere Pop-Kolumne ›Abgehört‹ rezensieren würde. Es waren ausufernde und amüsante, für mich oft lehrreiche, manchmal auch nervenzerrende Gespräche, in denen wir über die Jahre hinweg von Kollegen zu Freunden wurden.

Mein schönster Moment unter vielen anderen mit ihm war jener, als wir in Hamburg gemeinsam zum Konzert von Bruce Springsteen gingen, Jans größtem Idol. Es war sein x-tes Springsteen-Konzert, aber Jan war aufgekratzt und nervös wie ein Teenager; als würde er den Boss zum allerersten Mal live sehen. Sein Herz schlug laut und pochend auch für Eintracht Frankfurt und den Schlagerschmelz von Münchener Freiheit, für den politischen Indie von Die Nerven ebenso für US-amerikanischen Mainstream-Rock, für abgründigen Black Metal und für obskure Sixties-Psychedelik und japanische Horrorfilme.

Jan schöpfte seine unvergleichlichen, idiosynkratischen Texte immer auch aus seiner persönlichen, brüchigen Erlebnis- und Gefühlswelt. Seine hochemotionale, immer auch selbstironische Art, kluge Gedanken und unerbittlich geschmäcklerische Urteile über Musik zu formulieren, prägte den Sound der Pop-Kritik in den Nullerjahren und beeinflusste viele junge Kolleginnen und Kollegen, die heute den Ton angeben – und nicht zuletzt auch mich selbst und mein eigenes Schreiben über Pop. Sein viel zu früher Tod ist ein großer Verlust und schmerzt mich sehr.«

Eine Art Best-of von Jan Wigger:

Jan Wiggers flammende Verteidigung von Tokio Hotel gegen die Hater und Kritiker

»Wiggers wundersame Welt« über die Pop-Obskurität »Montage«

Jan Wigger über Springsteens beste Alben

Jan Wigger über »Fun« von Die Nerven – eine Pop-Kritik, die bis heute zitiert wird, auch von der Band selbst.

Wiggers legendärer Rant über Varg Vikernes und seine Entschuldigung bei Zola Jesus

Keine Angst vor Satanisten – Jan Wigger über die niederländische Occult-Rock-Band The Devil’s Blood

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