Gastbeitrag: Olaf Scholz’ neue Prämisse ist der Abstieg des Westens

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Olaf Scholz wird am 31. Oktober 2023 mit militärischen Ehren in Ghanas Hauptstadt Accra begrüßt.

Vordergründig ist die Beziehung zwischen Joe Biden und Olaf Scholz eng. Die Vorliebe des Kanzlers für politische Sachbücher über den Postkolonialismus will dazu nicht so recht passen. Trotz ihrer oft antiwestlichen Stoßrichtung hat Scholz hier nach eigener Aussage die „Prämisse“ für seine Zustandsbeschreibung gefunden, nach der aufstrebende Mächte „mehr Gewicht“ verdienen. Wer das anders sehe, dem fehle ein „realistischer Blick“ auf die Welt, so der Kanzler.

Zweifellos haben einige Staaten des globalen Südens heute die Macht, ihren politischen Zielen mehr Gewicht zu verleihen. Das war über viele Jahrzehnte anders. Nicht zuletzt, weil die damalige Dritte Welt nie zu einem Block wurde, der mit einer Stimme sprach. Auch heute folgt aus dem Erstarken dieser Staaten nicht automatisch eine neue Machtordnung. Der Westen wird mitreden und den Wandel strategisch gestalten, um seine Vormachtstellung zu erhalten.

Für diese Zeitenwende in der internationalen Geopolitik fordert die Bundesregierung eine neue strategische Kultur. Diese müsse „in den Köpfen“ beginnen. Doch ist sie dort schon angekommen? Noch nicht, denn bisher verhindern drei gravierende Defizite die strategische Gestaltung der globalen Machtverschiebung.

Erstens lässt sich die dafür notwendige Form des Multilateralismus, die nach Scholz die entstehende Multipolarität prägen soll, nicht unabhängig vom Machtkampf um die Ausgestaltung der künftigen internationalen Ordnung operationalisieren. Scholz geht davon aus, dass aufstrebende Mächte grundsätzlich multilateral orientiert sind. Dabei ignoriert er den Machtwillen, der sie antreibt, und die Ziele, die sie mit Machtpolitik erreichen wollen. Dies gilt zumindest für die Nuklearmächte Indien und China.

Bemerkenswert ist zweitens, mit welch postkolonialer Sensibilität der Kanzler die geopolitische Machtverschiebung zu seiner „Prämisse” macht, während Deutschland noch scheinbar unbeeindruckt davon agiert. Die Ideale des Kanzlers, sein Verständnis von „Respekt“, dienen allein der statischen Selbstvergewisserung, nicht der notwendigen machtpolitischen Fundierung seiner Zeitenwende. Sein Beharren auf dem „Verzicht auf Gewalt als Mittel der Politik“ leugnet, dass Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln bleibt. Machtkonflikte entladen sich im Ringen um die Weltordnung häufig in Kriegen (wie aktuell in der Ukraine).

gastbeitrag: olaf scholz’ neue prämisse ist der abstieg des westens

Der Autor Prof. a.D. Maximilian Terhalle

Lavieren untergräbt die Abschreckungsfähigkeit

Jeglichem Revisionismus eine Absage zu erteilen, widerspricht diametral der Natur konfliktgeladener weltpolitischer Verdrängungsversuche, wie das Beispiel Taiwan zeigt. Dabei kann „Kooperation über Trennendes hinweg“ Appeasement fördern. Wo Lavieren die eigene Abschreckungsfähigkeit untergräbt, wie bei der regelmäßigen Unterschreitung der NATO-Zusagen zur Höhe der Verteidigungshaushalte, wird sie zur leeren Floskel.

Am deutlichsten wird – drittens – der Mangel an strategischem Bewusstsein im Vorwort des Bundeskanzlers zur Nationalen Sicherheitsstrategie. Dort wird dem nur rituell erwähnten starken Reformimpuls des westlichen Bündnisses nur die Rolle eines weißen Flecks zugestanden. Seine besondere Betonung der aufstrebenden Mächte wiederholt stattdessen die These vom Niedergang des Westens.

Was folgt daraus?

Zunächst wird deutlich, dass der Abstieg des Westens zur unausgesprochenen Prämisse der Politik des Kanzlers geworden ist. Daraus lässt sich schließen, dass bei Scholz die Überzeugung von einer postamerikanischen Welt gereift ist, in der es notwendig wird, auch über die Ukraine hinaus die Hand nach Moskau ausstrecken zu können. Und wenn der Bundeskanzler jüngst sagte, „die Bedrohung für Deutschland und Europa nimmt weiter zu“, dann führt ihn seine postamerikanische Prämisse bereits in die Richtung, Zukunftsperspektiven mit Blick auf Russland auszuloten.

Ein Gegenentwurf zu dieser Strategie könnte auf zwei Säulen ruhen: Zum einen müsste das transatlantische Prinzip „Partners in Leadership“ von 1990 neu gedacht werden. Damit würde sich Berlin auf die Fahnen schreiben, die Lastenteilung im Bündnis durch eine Lastenverschiebung stärker zu gestalten. Die reichen europäischen Staaten, einschließlich Großbritanniens, müssten aufgefordert werden, die konventionelle und nukleare Schutzgarantie für den Kontinent zu ermöglichen.

Fatalistische Trumpstarre bringt keine Sicherheit

Berlin müsste dies mit der Einsicht verknüpfen, dass sowohl die Sicherheit Europas als auch die Asiens für die Dominanz des Westens grundlegend sind. Angesichts der hegemonialen Herausforderung durch China müsste das Verhältnis zu Indien zweitens enger gestaltet werden: durch die Lieferung hochsensibler Nukleartechnologie, die Aufnahme als Vollmitglied in die G7 und mehr Stimmgewicht in der Weltbank. Diese Neuausrichtung würde die chinesische Bedrohung Indiens nutzen, um Peking in die missliche Lage eines Zweifrontendilemmas zu manövrieren und gleichzeitig die BR(I)CS-Staaten zu unterminieren.

Die geopolitische Machtverschiebung muss, anders als vom Kanzler geplant, als strategische Gestaltungschance begriffen werden. Dass bisher alle Abgesänge auf den Westen historisch entzaubert wurden, bietet dafür allein noch keine Sicherheit. Fatalistische Trumpstarre aber auch nicht. „In den Köpfen“ deutscher Geopolitiker der Zeitenwende sollte daher allein die strategische Neupositionierung des Westens den „realistischen Blick auf die Welt“ prägen, nicht postkoloniale Sirenengesänge.

Der Autor, Prof. a.D. Maximilian Terhalle, forscht an der London School of Economics (LSE IDEAS) und unterrichtet an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Er gibt hier seine Privatmeinung wieder.

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