Deutschland genießt in Vietnam einen ausgezeichneten Ruf, viele Bürger des Landes würden gerne hier arbeiten. Kriminelle nutzen das aus – und schicken ihre Opfer auf eine oft lebensgefährliche Odyssee. Ein Gerichtsverfahren in Hamburg wirft ein Schlaglicht darauf, wie die perfide Masche funktioniert.
Das Dong Xuan Center in Berlin-Lichtenberg gilt als „Dreh- und Angelpunkt“ vietnamesischer Menschenhändler in Deutschland picture alliance/dpa/Jörg Carstensen
Die Taten, um die es heute gehe, lägen schon sieben Jahre zurück, sagt der Verteidiger auf dem Gerichtsflur. Es habe lange keine Anklage gegeben, keinen Schlussstrich. „Diese Unsicherheit hat meine Mandantin seitdem belastet.“
An diesem Freitag im April soll nun endlich geklärt werden: Hat seine Mandantin Thi N., eine Frau mit hochgeknöpfter Bluse und schwarzem Haarband, einige ihrer Landsleute mit falschen Versprechungen aus Vietnam nach Deutschland gelockt? Ist sie gar ein Rad im florierenden Schleusergeschäft, wenn auch ein kleines?
Die Frau, 46 Jahre alt, verheiratet, Mutter von drei Kindern, sitzt in Raum 1.07 des Hamburger Amtsgerichts St. Georg, neben ihr ein Dolmetscher, der ihr die Vorwürfe übersetzt, die die Staatsanwältin gerade vorträgt. Sie soll vietnamesischen Staatsangehörigen versprochen haben, ihnen durch die Vermittlung von Ausbildungsverträgen ein Visum zur Einreise nach Deutschland zu verschaffen. Dafür verlangte sie mehrere tausend Euro.
Viele ihrer Landsleute zieht es ins Sehnsuchtsland Deutschland, und auch viele deutsche Unternehmen versuchen, mit ausländischen Azubis die Fachkräfte-Lücke zu schließen, die sich gerade auftut. Sie werben gezielt in Vietnam und schließen Abkommen.
Ostdeutsche Betriebe sind hier im Vorteil: Schon die DDR unterhielt Vertragsarbeiter-Abkommen mit dem kommunistischen Land, die Auswirkungen spürt man heute: Viele Unternehmen etwa in Thüringen, werden nun von Vietnamesen geführt. Die vietnamesischen Auszubildenden treffen in der neuen Heimat also auf Landsleute, das hilft bei der Anwerbung.
Das Angebot von Thi N. muss zunächst seriös genug geklungen haben: Sechs Vietnamesen überwiesen jeweils bis zu 7000 Euro an die Angeklagte. Die setzte dann angebliche Verträge mit Pflegeeinrichtungen in Hamburg und Umgebung auf, schickte diese unterschrieben zurück nach Vietnam und empfahl ihren Landsleuten, damit bei der deutschen Auslandsvertretung in Hanoi ein Enreisevisum zu beantragen.
Das Problem war laut Anklage nur: Die Altenheime und Pflegezentren wussten gar nichts von ihren neuen vietnamesischen Auszubildenden. Thi N. soll die Verträge und die Unterschriften der Betreiber gefälscht haben. Aufmerksamen Beamten in der deutschen Vertretung in Hanoi fielen Unregelmässigkeiten auf, die Einreise scheiterte – doch das Geld sahen die verhinderten Azubis nicht wieder.
Gefälschte Verträge sind nur eine Möglichkeit, um Vietnamesen nach Europa zu bringen. Wie das Schleusergeschäft funktioniert, zeichnet das Bundeskriminalamt (BKA) in einem Forschungsbericht „Menschenhandel und Ausbeutung vietnamesischer Staatsangehöriger“ nach: Demnach werden in Vietnam „Rekrutierer“ eingesetzt, meist wird der erste Kontakt über die Familie oder Freunde aufgenommen. Den potenziellen Opfern werden dabei unrealistische Einkommensmöglichkeiten sowie Lebens- und Arbeitsbedingungen in Europa versprochen.
Vietnamesische Schleuserinnen und Schleuser bauen oft enge Beziehungen zu den Opfern oder ihren Familien auf. Sie werden daher bei der Schleusung „oftmals nicht als Täterinnen und Täter wahrgenommen, sondern als Freunde oder Helferinnen“, so das BKA. Viele der Opfer von Menschenhandel und Schleusung sehen sich deshalb auch nicht als Opfer – und wenden sich selten an Sicherheitsbehörden und staatliche Stellen.
Der Preis für eine Schleusung nach Europa kann mehrere Zehntausend Euro betragen. „Die für die Reise, insbesondere die Flugreisen, benötigten Dokumente wie Visa werden u. a. unter Nutzung inkriminierter Dokumente wie z. B. Einladungen, Ausbildungsverträge o. ä. erschlichen“, hält der Forschungsbericht fest.
Leipzig und Berlin als „Dreh- und Angelpunkt“
Die erste Etappe verläuft oft von Vietnam nach Moskau. Von dort bringen Schleuser die Menschen per Kleintransportern nach Europa – oft über Rumänien oder die Slowakei. Andere steigen an Autobahnraststätten in Lkw zu und versuchen, nach Großbritannien zu gelangen. Der Fall von 39 vietnamesischen Staatsangehörigen, die 2019 nach einer illegalen Kanalüberquerung erstickt in einem Lkw in England aufgefunden wurden, kann als „erschütternde Spitze eines Eisbergs betrachtet werden“, so formuliert es das BKA.
Leipzig und besonders Berlin gelten als „Dreh- und Angelpunkt“ vietnamesischer Menschenhändler in Westeuropa. Das Dong Xuan Center im Osten der Stadt spielt dabei eine zentrale Rolle. Erst Mitte März gingen dort zwei Gruppen mit Macheten, Messern und Holzlatten aufeinander los, drei Männer wurden lebensbedrohlich verletzt. Die Hintergründe sind noch ungeklärt – es dürfte aber ein Zusammenhang zum florierenden Schleusergeschäft bestehen.
Das Einkaufszentrum mit etwa 350 Geschäften besteht aus mehreren großen Hallen mit jeweils Dutzenden Läden, die vor allem von Vietnamesen betrieben und auch besucht werden. Neben Dienstleistungen verkaufen die Händler dort vor allem Kleidung, Spielzeug und Elektronikartikel.
Geschäfte im Dong Xuan Center picture alliance/imageBROKER/Joko
Denn nach Erkenntnissen des Bundeskriminalamts sollen hier vielfach eingeschleuste Menschen die Kosten für ihre Schleusung abarbeiten. Sie arbeiten illegal in Nagel- und Massagesalons, in Restaurants der Fleisch- oder Schlachtindustrie sowie der Textil- und Reinigungsbranche. Es besteht auch der Verdacht auf Zwangsprostitution.
So weit kam es in den Fällen am Hamburger Amtsgericht nicht, die Einreisen der vermeintlichen Auszubildenden scheiterten. Thi N. ist angeklagt wegen Urkundenfälschungen, und allen Beteiligten ist anzumerken, dass sie diesen langwierigen Fall zügig abschließen wollen.
Die Taten stammen aus dem Jahr 2017, die verhinderten Auszubildenden leben in Vietnam und sind für die deutsche Justiz nicht greifbar – und zu allem Übel befindet sich selbst der ermittelnde Polizeibeamte, der als erster Zeuge geladen war, an diesem Freitag im Urlaub.
Nach einer Verständigung zwischen Richterin, Staatsanwaltschaft und Verteidigung einigen sich die Parteien: Das Verfahren wird nach Paragraf 153a gegen eine Geldauflage von 1800 Euro eingestellt. Thi N. ist damit nicht vorbestraft.
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