Löwen-Kapitän Verlaat - ein Anführer auf Reisen

Bei 1860 München ist Jesper Verlaat (27) Abwehrchef und Kapitän. Schon als Knirps kam er viel herum, nun hat er verlängert – und könnte doch noch sesshaft werden.

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Von Tierheimen, Elterntrennung und Diekmeiers Brotdosen

Für dieses Jahr hat Jesper Verlaat keinen Urlaub geplant. Er selbst sagt, dass er sich mal ausruhen wolle, dass es ihm wichtig sei, nach den zwei Wochen Rucksackwandern in Südostasien 2022 und den 14 Tagen in Portugal 2023 mal einen Sommer lang auszuspannen. Dass der Juni und Juli auch tatsächlich ruhig sein können, dafür hat der 27-Jährige selbst gesorgt. Denn bis vor zwei Wochen noch hatte es so ausgesehen, als ob dieser Sommer eines nicht werden würde: entspannt. Mitte März war der Verteidiger des TSV 1860 München noch vor einer wegweisenden Entscheidung gestanden. Würde er jetzt, im besten Alter, beim TSV bleiben, jenem Verein, bei dem er vom vielversprechenden Jungprofi zum Kapitän aufgestiegen ist? Verlaats Antwort: ja! Er hat seinen Vertrag dem Vernehmen nach um zwei Jahre verlängert – und schafft damit erstmals in seinem Leben wirkliche Kontinuität.

Ein Donnerstag Anfang März, Jesper Verlaat schlendert über das Trainingsgelände an der Grünwalder Straße, zieht seine grüne Wollmütze, die in einer seltsamen Perfektion auf die weiß-rosa Jacke abgestimmt ist, etwas tiefer ins Gesicht. Selbst diese Geste lässt den Blondschopf nicht verschlossener wirken, er weiß, wie er mit Menschen umgehen muss. Gelernt hat er das vor allem in seiner Kindheit. Damals, im Jahr 2003, unterschrieb Vater Frank Verlaat gerade bei seinem sechsten Profiverein, dessen Frau Cassandra war bisher ebenso wie die beiden Kinder Jesper (geboren 1996) und Bibi (1994) immer mitgekommen, von Auxerre nach Stuttgart, von Stuttgart nach Amsterdam, von Amsterdam nach Bremen, von Bremen nach Wien. Ein Leben auf Reisen. Jesper Verlaat hat das geprägt: “Man wird schneller erwachsen, umgänglicher, weiß irgendwann, wie man neue Freunde findet.” Und alte verliert? “Das auch”, räumt Verlaat ein, “aber das habe ich schon so oft erlebt und kann damit umgehen.” Der 27-jährige 1860-Profi wirkt nicht verbittert, wenn er von seiner Jugend erzählt. Immerhin kenne er es nicht anders, zudem seien ja auch einige Bekanntschaften bis heute geblieben.

Brotdosen von Diekmeiers

So auch die Verbindung zum sieben Jahre älteren Dennis Diekmeier, den Verlaat, inzwischen selbst Profi, in Sandhausen kennenlernte und mit dessen Familie er bis heute in Kontakt steht. In Dion, dem zweitältesten der vier Diekmeier-Kinder, habe er “ein Stück weit mich selbst gesehen”, sagt Verlaat. Auch der damals Sechsjährige verbrachte viel Zeit in Fußballstadien, hatte zudem eine Mutter, die sich um Kinder und Haushalt kümmerte sowie einen Vater, der als Fußballprofi darum herumkam. “Das war bei uns daheim genauso”, sagt Verlaat, “die Beziehung zu Dennis und Dana ist eine besondere, es hat direkt gefunkt.” Mit damals 22 Jahren eher ein fünftes Kind als ein zweiter Vater ist der Jungprofi oft bei Diekmeiers zu Gast, bekommt Essen in einer Brotdose “für den Weg”, übernachtet, spielt mit den Kindern. “Wie eine zweite Familie”, sagt er. Die andere, eigene, wohnt nach wie vor in Portugal, Vater Frank arbeitet dort in einer Versicherungsfirma für Spitzensportler, Mutter Cassandra betreibt zusammen mit Schwester Bibi ein Restaurant am Strand von Praia da Luz an der Südküste Portugals. Tapas und Modern Asian Cuisine. Schon früher, in Jesper Verlaats Jugend, nach der Profikarriere seines Vaters, wohnte die Familie an der Algarve in Portugal. Damals allerdings noch zusammen.

Mit 16 Jahren war klar, dass Verlaat, der bisher eher in unterklassigen Jugendvereinen in der Nähe des jeweiligen Heimatortes gekickt hatte, Profi werden wollte. In der Wahlheimat am Mittelmeer war das jedoch nur schwer möglich. Es ging deshalb nach Deutschland, wo die Barriere als Muttersprachler weniger hoch war. Gladbach und Stuttgart statt Guimaraes und Sporting. Bei keinem der beiden Bundesligisten klappte es jedoch. Bremen, wo Frank Verlaat zwischen 2000 und 2003 gespielt hatte und noch ein paar Leute kannte, schien der letzte Ausweg. “Als der Anruf kam, dass Werder mich im NLZ aufnimmt, bin ich in den Waschkeller gerannt, habe die Tür geschlossen und vor Freude geweint”, sagt Verlaat. Die Zusage als Türöffner in eine andere Welt.

Elterntrennung und Abi-Stress: Schwierige Zeit in der U 19

Der Verteidiger steigt schnell in die U 19 auf, vier Monate läuft’s gut. Dann zwickt die vordere Leiste, der Bewegungsapparat stockt, eine Schambeinentzündung wird diagnostiziert. 15 Monate lang muss Verlaat auf Sport verzichten, Abi-Büffeln statt Athletik-Bolzen, die Eltern trennen sich, das Grübeln beginnt. “Ich hatte sogar ein schlechtes Gewissen, dass ich jemandem den Platz im NLZ wegnehme”, erzählt Verlaat, während er beim Spaziergang über das 1860-Trainingsgelände an der Grünwalder Straße seine Runden dreht. Damals drehten sich seine Gedanken im Kreis. Der Ausweg: nicht nachdenken, positiv bleiben, weitermachen. So gelingt Verlaat die Flucht aus seiner sportlichen und mentalen Abwärtsspirale.

Der junge Abwehrspieler schafft es in die damals drittklassige Werder-Zweite, spielt regelmäßig, empfiehlt sich für die Profis, doch es reicht nicht für einen Einsatz. Der kicker beschreibt ihn im Sommer 2017 als “Nothilfe”, die bereits daran scheiterte, fest zum Erstligakader zu gehören – und das, obwohl sich die Muskelverletzung von Innenverteidiger und Kapitän Niklas Moisander von August bis in den Oktober zieht. “Mit 21 Jahren musste ich eine Entscheidung treffen”, sagt Verlaat. Und die hieß Sandhausen. Am Hardtwald weckte sein Nachname gute Erinnerungen, denn 1995 hatte just der damalige Stuttgarter Kapitän Frank Verlaat mit einem frühen Platzverweis das legendäre 12:13 nach Elfmeterschießen des VfB Stuttgart beim damaligen Regionalligisten eingeleitet. Nun unterschrieb der 22-jährige Sohn des holländischen Ex-Nationalspielers einen Zweijahresvertrag beim mittlerweile ins Unterhaus aufgestiegenen SVS. Die erste Saison lief gut, Verlaat machte viele Spiele, kam voran. 2019/20 dann wurde Verlaat jedoch verdrängt und machte nur drei Spiele. Wie bei Werder fehlten Vertrauen und Perspektive, also ging es im Sommer 2020 nach Mannheim.

Stammspieler im Waldhof – Käfige im Tierheim putzen

Dort entwickelte sich Verlaat zum Stammspieler, überzeugte mit Kopfballstärke, Kompromisslosigkeit und Offensivdrang, merkte nach einer Saison des Bankdrückens und der leeren Corona-Stadien, “wie geil Fußball eigentlich sein kann”. Verlaat lächelt, wenn er von dieser Episode seiner Karriere erzählt. Na ja, eigentlich lächelt er die meiste Zeit. Menschen aus seinem Umfeld beschreiben ihn als Gute-Laune-Menschen, der offen sei, auf Leute zugehe, eine Zuneigung ausstrahle, die nicht aufgesetzt wirke. Ist er tatsächlich eine Art Schwiegermutters Liebling, wie ihn sogar Teamkollegen manchmal nennen? “Ich versuche einfach, ich selbst zu sein”, sagt er.

Fußballprofis wissen genau, was sie sagen müssen, um ihrem Profil zu entsprechen, können es mit clever platzierten Aussagen leicht schärfen. Auch er weiß, dass es gut ankommt, wenn er erzählt, dass er mit bis zu 15 Hunden aus dem Tierheim aufwuchs, dass er aus dieser Erfahrung heraus während Corona Stahlkäfige putzte, weil der Kontakt zu den Heimtieren nur mit einer bestimmten Ausbildung erlaubt war. Doch all das erzählt er erst auf Nachfrage. Fakt ist: Er bleibt 1860 trotz der mauen Aufstiegsperspektive erhalten, wird wie gewohnt für die letzte Aktion noch in den Strafraum sprinten, um mit einem seiner gefürchteten Kopfbälle den Ausgleich zu erzielen. Hält es Jesper Verlaat also weiterhin kaum an einem Ort? Nach der Vertragsverlängerung muss man konstatieren: Es kommt drauf an.

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