Der Timo, das Tischtennis und ich

Kerken. Das Lebenswerk von Timo Boll wird massiv unterschätzt – genau wie der Tischtennissport im Allgemeinen. Würdigung durch einen, der immerhin ein Mal Vereinsmeister in Nieukerk am Niederrhein war.

der timo, das tischtennis und ich

Wir stellen Ihnen den deutschen Tischtennis-Profi Timo Boll vor.

Ich fühle mich einem Mann verbunden, der schon als Schüler Sportgeschichte schrieb: Als Timo Boll 14 war, kam er in die Zweite Liga – und seine gesamte Mannschaft kam zu ihm. Buchstäblich. „Er hängt an seiner Familie, seinen Freunden, seinem Hund“, erklärte sein Entdecker Helmut Hampl gegenüber spox.com. Also blieb der sensible Junge, statt in ein Sportinternat zu müssen, im beschaulichen Odenwald – und seine neuen Mitspieler wurden vertraglich dazu verpflichtet, in Bolls Heimatort Höchst umzuziehen, rund 170 Kilometer weit. Des täglichen gemeinsamen Trainings wegen. Das Experiment ging auf: Der TTV Gönnern erreichte den Aufstieg – und Boll spielte mit 15 in der Ersten Liga.

Seitdem hat er alles in seinem Sport mögliche erreicht, war trotz der Dominanz der Chinesen in ihrem Nationalsport mehrmals Erster der Weltrangliste – und doch würde ich ihn wohl duzen, wenn wir uns träfen. Er wäre nicht „Herr Boll“, sondern vermutlich „der Timo“.

Nicht aus Respektlosigkeit gegenüber einem der größten deutschen Sportler überhaupt. Sondern aus Verbundenheit. Denn Bolls Sport war lange auch meiner – und Tischtennisspielerinnen und -spieler sind immer auch Leidensgenossen.

„Ping-Pong“ klingt ja schon nach Pillepalle

Beim Namen fängt es ja schon an: Nicht wenige nenen das rasante Rückschlagspiel „Ping-Pong“ – das klingt ja schon nach Pillepalle. Dieses Schicksal teilen wir immerhin mit Badminton-Fans, deren schweißtreibender Sport mit dem Kinderspiel „Federball“ zum Feierabend herzlich wenig zu tun hat. Aber bei allem Respekt: Badminton ist ein Rand-, Tischtennis ein Breitensport. Der Deutsche Tischtennis-Bund hat fast 600.000 Mitglieder in mehr als 9.300 Vereinen. Weltweit sollen 250 Millionen Menschen die kleine weiße Kugel übers Netz jagen.

Aber als „richtiger“, athletischer Sport gilt es vielen eben nicht. Attackiert und verteidigt, gerannt und geschwitzt wird an der Platte zwar, aber eben nicht gegrätscht, gefoult, geblutet. Dass ein Ball 170 km/h erreichen kann, den Schläger nur etwa eine Tausendstelsekunde lang berührt und sich, hart angeschnitten, bis zu 150 Mal pro Sekunde (!) um die eigene Achse dreht – egal.

Tennis ist der weiße Sport, sein uncooler kleiner Bruder der mausgraue. Daran haben auch hippe Youtube-Kanäle wie „Pongfinity“ (4,4 Millionen Abonnenten, fast eine Milliarde Video-Abrufe) nichts geändert.

Die Sportfreunde Stiller sangen einst „Mag doch einfach Tischtennis, mein Kind!“. Leider war der Song nicht hymnisch, sondern hämisch. Tischtennis ist darin bloß eine von vielen „Alternativen, gut für meinen Rücken, den schiefen. Dieses Problem sollte mich nicht länger wurmen. Ich könne auch gerne ins Sonderturnen. Oder mit meinem Freund, dem einsamen Hans, zusammen in Gymnastik und Tanz.” Timo Boll und mir gefällt das nicht.

Das Lied kam Mai 2006 heraus, zufällig zeitgleich mit einem erstaunlich guten Videospiel, mit dem der Hersteller der Gangster-Reihe „Grand Theft Auto“ Experten und Laien überrumpelte: „Rockstar Games presents Table Tennis“ war cool, aber Tischtennis blieb uncool.

Im Dorfverein war ich ein Talent

In just jenen Tagen machte ich die Schule fertig. In den Monaten und Jahren danach fuhr ich am Wochenende noch aus meiner Uni-Stadt heim an den Niederrhein und lief für die dritte Herrenmannschaft auf, aber ich glaube nicht, dass ich je auch nur ein Spiel gewann.

Dabei war ich neun Jahre zuvor als vielversprechendes Talent in den Dorfverein gekommen. 1997 war für mich das Jahr des großen Umbruchs. Grund- und Musikschule waren überstanden, die Zukunft rief. Die Eröffnung der neuen Fußball-Saison auf dem Ascheplatz des TSV Nieukerk am 16. August muss einer der letzten Termine sein, den ich auf dem verhassten Ascheplatz wahrnahm. Kurz danach wechselte ich in die Tischtennis-Abteilung, wo ich mich auf Anhieb knapp hinter unserem Topspieler Stefan einsortierte. Mit ihm gewann ich Dutzende Doppel, gegen ihn fast nie – aber zumindest bei einer einzigen Auflage unseres Dauer-Duells um die Vereinsmeisterschaft, lange Jahre später.

Etwas Talent hatte ich, dazu frühes Privattraining auf dem Dachboden meiner Eltern, die wiederum in ihren Jugendjahren an allen Platten Ostwestfalens gefürchtet waren.

Training in der Halle mit den Glasbausteinfenstern

Im Verein trainierten wir dienstags beim gutmütigen alten Marek, mittwochs beim strengen Jürgen und donnerstags beim ambitionierten Wolfgang, der uns auch etwas Theorie nahebringen wollte mit fotokopierten Artikeln aus Fachmagazinen etwa über den perfekten Aufschlag („Der einzige Schlag, bei dem der Gegner keine Variable kontrolliert!“). Vor allem aber spielten wir. Gegen die Ballmaschine und natürlich gegen die mehr oder wenigen Gleichaltrigen: Gegen Boris, Roman und Felix, Bernd und Jens und Jan.

Aber Tischtennis ist ein egalitärer Sport. Körpergröße und Armspannweite lassen sich zumindest ein Stück weit ausgleichen durch Beweglichkeit, Kraft durch kluges Stellungsspiel, Erfahrung durch Reaktionsschnelligkeit. Und andersherum. Überdeutlich wurde das in den Duellen zwischen Brüdern (Jens und Christian, Roman und Dariush) oder Vätern und Söhnen (Ernst und Bernd; später auch Sascha und Jan).

Also spielten auch wir gegen die Jüngeren (Fordern und Fördern) – und gegen die (teils sehr viel) Älteren, die mit heimlicher Genugtuung demonstrierten, dass sie uns auch aus dem Stand die Bälle um die Ohren knallen konnten. Oder zwirbeln. Oder sie ansatzlos extrem kurz hinters Netz oder gleich gezielt auf die Kante der Platte setzten – unerreichbar. So war das in der alterslosen Turnhalle zwischen Sprossenwänden und den Glasbaustein-Fenstern. Nach dem Training schoben wir die Spielfeldumrandungen zusammen, klaubten die Bälle auf, bauten die Netze ab, klappten die Tische zusammen und rollten sie zurück in den Geräteraum, zwischen Matratzenwagen, Barren, große und kleine Sprungkästen.

Einmal die Woche, wenn keiner von den „echten“ Erwachsenen da war, gönnten wir uns Pommes von der Bude (wer sie holte, musste nicht zahlen; für seine Portion legten die anderen zusammen). Dazu floss verlässlich deutlich mehr Mineralwasser und Sinalco als Bier.

Am Wochenende dann fuhren uns die Älteren im Wechsel durch die Gegend, neben unseren Trainern und Ernst in seinem türkisen alten Benz auch die jungen Wilden „Erpel“ und „Buschi“, die niemand je anders nannte als bei ihren Spitznamen.  Stets ging es die B9 hinauf in die immergleichen Hallen der Nachbarorte, meist über überschaubare Distanzen. Manchmal aber auch 75 Kilometer nach Emmerich-Elten. Die laut Google Maps angeblich nur rund einstündige Reise kam uns mindestens doppelt so lang vor. Weil Jürgen gemächlich fuhr und die Eltener grundsätzlich nur sonntagsvormittags spielten. Und vor allem, weil wir dort oben unweigerlich haushoch verloren.

Spiele in der JVA, immer zweimal pro Saison

Auf dem hauchdünnen, knittrigen Durchschlag des Spielberichts standen natürlich schon ein paar Punkte für uns, aber wenige Sätze, und selten mehr als ein oder zwei Spiele. Meist lautete das Ergebnis aus unserer Sicht null zu acht.

Über die Jahre hat sich vieles geändert. Die Bälle wurden von 38 auf 40 Millimeter Durchmesser vergrößert. Dadurch sollten die Ballwechsel langsamer – lies: TV-tauglich – werden. Wurden sie aber nicht, weil die Spieler und Schläger besser wurden. Die Sätze gingen nur noch bis 11 statt wie zuvor bis 21, dafür gab es drei statt zwei Gewinnsätze. Damit waren die Abreibungen in Elten wenigstens schneller vorüber.

Irgendwann war ich alt genug für eine Art Initiationsritus: ein Spiel in der Justizvollzugsanstalt Geldern-Pont, hinter sechs Meter hohen Mauern, mehreren massiven Türen und mindestens einem Metalldetektor. Immer zweimal pro Saison; auf den Vorteil der zwei Heimspiele hätten sie dort nur zu gern verzichtet.

Ich verlor die Lust am Tischtennis nicht zuletzt, weil meine Lernkurve bald dem Horizont am Niederrhein glich. Timo Boll aber fasziniert mich bis heute. Er ist unter anderem achtfacher Europameister und 13-facher Deutscher Meister im Einzel, hat die Nationalmannschaft zu 22 Medaillen bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften geführt. Mit seinen Mannschaften hat er unter anderem acht Mal die Champions League gewonnen und zwei Mal die chinesische Superliga.

Timo Boll ist und bleibt ein Musterprofi

Auf seinem enormen Talent und seinen 280 Prozent Sehstärke hat sich Boll nie ausgeruht, er war und ist Musterprofi, lernt nie aus, wechselt teils mitten im Ballwechsel die Hand. Ein echter Botschafter seines Sports, dazu ganz offenbar ein feiner Kerl. „Ich bin halt ein guter Tischtennisspieler“, hat er mal gesagt, „so wie andere gute Bäcker sind“.

Boll will den Sieg, er tut extrem viel dafür – aber er will ihn eben nicht um jeden Preis, sondern nur, wenn er ihn mit fairen Mitteln erringen kann. Tischtennis ist sehr viel schneller und actionreicher, als der Laie denkt, aber es ist und bleibt mehr Schach als Kneipenschlägerei. 2005 verlor Boll ein WM-Spiel, nachdem er den Schiedsrichter zu seinen eigenen Ungunsten auf ein Versäumnis hingewiesen hatte. Der Sport sei eben, sagte er danach ungewohnt poetisch, „eine große Liebe; und die betrügt man nicht“.

Am vergangenen Wochenende hat Timo Boll nach diversen Verletzungen vor allem an Rücken und Knien ein wichtiges Turnier in Doha gewonnen – seine Gegner im Halbfinale und Finale waren zusammen so alt wie er: 42. Der Lohn: ein Sprung in der Weltrangliste von Rang 182 auf 45. Direkt nach dem Triumph hatte Boll gesagt: „Weltrangliste und alles Statistische interessieren mich gerade gar nicht. Ich bin sehr dankbar dafür, noch einmal das Gefühl des Turniersiegs zu verspüren.“ Nichts daran war aufgesetzt, alles echt.

Boll ist fit wie lange nicht. Bei Borussia Düsseldorf spielt er noch bis 2025, mindestens. Sein nächstes Ziel sind die Olympischen Spiele in Paris. Es wären seine siebten. Bolls Mitspieler im Nationalteam, Dimitrij Ovtcharov, traut ihm auch eine Teilnahme in Los Angeles 2028 zu.

Das größte denkbare Kompliment hatte Boll 2011 mit markigen Worten Liu Guoliang gemacht, der damalige Nationaltrainer und heutige Präsident des chinesischen Tischtennisverbands: „Boll ist wie ein Staatsfeind, ein Gegner aller 1,3 Milliarden Chinesen. Solange er spielt, werde ich nicht ruhig schlafen können.“

Ich wiederum schlafe gut, gerade weil Boll noch spielt. Er ist eine Konstante. Er hat durchgezogen. Wie beim TSV Nieukerk Jens und Christian, Jürgen und Sascha und Erpel.

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