Wie ein Debütant die Elite blamierte

Matthias Kyburz ist in der Schweiz der Mann der Stunde. Der Weltmeister im Orientierungslauf wagte sich vor einem halben Jahr an ein Projekt, dessen Erfolg undenkbar schien: Die Olympia-Qualifikation im Marathon. Bei SPORT1 spricht der 34-Jährige über die größte Herausforderung in seinem Leben.

wie ein debütant die elite blamierte

Wie ein Debütant die Elite blamierte

Als Matthias Kyburz am vergangenen Sonntag das Aufwärmen vor dem Paris-Marathon beendet hatte, stand er gebannt an der Startlinie und gleichzeitig vor der wohl größten Herausforderung seines Lebens.

Der 34-Jährige ist weder in der Leichtathletik aktiv noch hatte er auch nur probeweise die 42,125 Kilometer bestritten. Dennoch wagte er sich an ein Projekt heran, das wohl nicht nur sein Trainer Victor Röthlin als „Mission Impossible“ bezeichnete: die Olympianorm zu unterbieten.

Wenn man so will, dann ging Kyburz in Paris fremd: Der Schweizer ist achtmaliger Weltmeister im Orientierungslauf, einer Sportart, die in Deutschland eher auf Achselzucken stößt, in Kyburz‘ Heimat aber durchaus populär ist.

Beim Orientierungslauf müssen die Athleten mithilfe von Karte und Kompass mehrere Kontrollpunkte im Gelände der Reihe nach anlaufen. Ziel ist es, die Strecke in der schnellsten Zeit zu bewältigen.

Marathon statt Orientierungslauf? „Der zweite Punkt klingt paradox“

„Je mehr du an die physische Belastungsgrenze gehst, desto schwieriger wird es, klar zu denken. Diese Kombination ist genau das Spannende: Wie sehr darf ich ans Limit gehen, dass ich noch präzise bin mit dem Kartenlesen“, erklärt Kyburz bei SPORT1.

Dass eine Koryphäe dieser Sportart längere Strecken schnell bewältigen kann, liegt auf der Hand – aber den meisten Marathon-Spezialisten den Laufpass geben und sich für die Olympischen Spiele in Paris zu qualifizieren? Da gab es doch etliche Zweifel.

Dass Kyburz überhaupt einen Gedanken an Olympia verschwendete, lag einerseits daran, dass er im Orientierungslauf so gut wie alles gewonnen hatte und sich neue Ziele suchen wollte.

„Der zweite Punkt klingt paradox“, sagt er. „Für den Orientierungslauf sind wir sehr oft im Trainingslager unterwegs, Ich wollte aber so viel Zeit wie möglich mit der Familie zu Hause verbringen. Und da ist Marathontraining viel effizienter und weniger zeitaufwendig, als wenn ich Orientierungslauf trainieren würde.“

Also schmiedete er im vergangenen Herbst seinen kühnen Plan und holte sich mit Röthlin einen ehemaligen Marathon-Europameister als Trainer, der ihm im Schnelldurchgang zu den Spielen nach Paris führen sollte.

„Wir geben uns eine Chance und gehen All in!“

„Es waren wirklich nur drei oder vier Monate Vorbereitungszeit, die wir zusammen bestritten haben, aber mit dem Fazit, dass wir die Olympianorm versuchen wollen“, erzählt Kyburz. „Im Sinne von: Wir geben uns eine Chance und gehen ‚All in‘, auch mit dem Hintergedanken der Trainingssteuerung.“

Statt auf Waldwegen und Wiesen spulte Kyburz in heimischen Gefilden der Gemeinde Belp in der Nähe von Bern nun Kilometer um Kilometer auf asphaltierten Straßen ab und nahm sich ansonsten Zeit für die Familie.

„Nach etwa einem Monat spezifischem Marathontraining habe ich große Fortschritte gemacht“, erinnert er sich. „Und ab dem Zeitpunkt hatte ich auch ein wenig das Gefühl: Doch, das könnte realistisch sein, auch wenn ich vorher noch nie einen Marathon gelaufen bin. Aber zu Beginn war ich sehr skeptisch.“

Die Zeit von 2:08:10 Stunden, die Kyburz für die Olympia-Qualifikation laufen musste, hatten bislang nur zwei Schweizer erreicht, unter anderem sein Trainer Röthlin.

„Viele werden sich gedacht haben: Jaja, der Kyburz…“

„Wir wollten das Rennen auf 2:07:30 Stunden anlaufen, weil wir wussten, dass in Paris gerade hinten raus doch einiges an Steigung drin ist“, erklärt Kyburz. „Die Leistungstests haben mir bestätigt, dass es möglich sein könnte und dass wir es einfach versuchen. Aber ich hatte natürlich meine Zweifel, weil ich nicht wusste, wie mein Körper nach 30 Kilometern reagieren würde.“

Sein kühnes Olympiaprojekt wurde in seinem Heimatland nicht mit ungeteiltem Enthusiasmus begleitet. „Ich glaube, in der Schweiz habe ich schon ein wenig Kontroversen ausgelöst im Vorfeld, weil ich es ja angekündigt hatte, die Olympianorm laufen zu wollen.“

Dass Kyburz in der Lage sein würde, bei seinem Marathon-Debüt in die nationale Spitze zu laufen, dürfte vor allem bei den arrivierten Läufern Skepsis und Argwohn ausgelöst haben.

„Mein läuferisches Potenzial habe ich schon vielfach bei Straßenläufen angedeutet. Das war nicht unbekannt in der Laufszene. Dann haben sicherlich einige gedacht, dass das möglich ist, aber viele werden sich gedacht haben: Jaja, der Kyburz…“

Seine Zuversicht ließ er sich trotzdem nicht nehmen. „Ich war eben auch guten Mutes, weil ich nichts zu verlieren hatte und wir einfach schauen wollten, was passiert. Es war auch ein cooles Mindset von mir, hatte ich das Gefühl und das hat mich sicherlich auch getragen.“

Olympia-Kurs kommt Kyburz zugute

Als er sich dann am Sonntagmorgen bei angenehmen 12 Grad auf die Strecke machte, waren die letzten Restzweifel zunächst verzogen. „Bei Kilometer 20, 25 fühlte ich mich noch extrem gut, da hatte ich noch einen schönen runden Tritt und alles war super“, erzählt Kyburz.

Dass bei Kilometer 30 der echte Marathon erst anfängt, kannte er nur vom Hörensagen – nun erlebte es der 34-Jährige am eigenen Leib. „Ab da wurde es richtig hart. Ich hatte ein leichtes Ziehen in der Wade und die Befürchtung, dass plötzlich der richtige Krampf kommt und ich anhalten muss. Ab Kilometer 35, wo dann die Steigung noch begann, da musste ich richtig kämpfen.“

Kyburz biss auf die Zähne und überquerte die Ziellinie nach 2:07:44 Stunden – 26 Sekunden unter dem Limit und nur gut zwei Minuten hinter dem äthiopischen Sieger Mulugeta Uma. In Deutschland gibt es aktuell nur vier Läufer, die eine schnellere Zeit stehen haben. Damit qualifizierte er sich sensationell für die Spiele in Paris und belehrte alle Zweifler eines Besseren.

Am 10. August wird Matthias Kyburz also zum zweiten Mal in der französischen Hauptstadt an der Startlinie stehen, auch wenn der Olympia-Marathon eine komplett andere Strecke aufweisen wird.

„Das wird ist noch härter, weil extrem viel Steigung drin ist. Es sind fast 500 Höhenmeter, da geht es rauf und runter“, erklärt er. „Das könnte mir als Orientierungsläufer entgegenkommen, weil ich es eigentlich mehr gewohnt bin, viel mit Steigung zu trainieren.“

Seine Konkurrenten sollten dieses Mal gewarnt sein.

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