Kommentar zu den Grünen: Was kommt nach Kretschmann?

kommentar zu den grünen: was kommt nach kretschmann?

Winfried Kretschmann (Grüne), Ministerpräsident von Baden-Württemberg, am 20. Dezember 2023 in der Villa Reitzenstein

Bei ihrer Gründung 1979 lag es jenseits der grünen Vorstellungswelt, über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren einen Ministerpräsidenten zu stellen. Das war sprichwörtlich Ökotopia. Winfried Kretsch­mann regiert Baden-Württemberg nun seit 2011 und hört spätestens 2026 auf. Erstmals in ihrer Geschichte stehen die Grünen vor der Frage, wie sich ein Wechsel in diesem Amt bei gleichzeitigem Machterhalt organisieren lässt.

Offiziell hielt die Partei in ihren Anfangsjahren wenig von der Personalisierung der Politik, auch wenn in der Alternativbewegung kantige Figuren wie Baldur Springmann oder Carl Amery und in der Partei profilstarke Politiker wie Joschka Fischer oder Petra Kelly eine wichtige Rolle spielten. Das Verhältnis der Partei zu ihren Heroen war immer ambivalent.

Die Partei hinter dem Regierungschef

In Baden-Württemberg jedoch trieb die Partei die Personalisierung auf die Spitze und trat hinter Kretsch­mann zurück. Mit „Grün wählen für Kretschmann“ gewann die Partei zwei Wahlen. Der Autorität, der Popularität und auch der Gabe Kretsch­manns, die spröde Landes- und zugleich die Weltpolitik intellektuell gekonnt zu überformen, verdanken die Grünen fast alles. Viele Abgeordnete sitzen nur dank des Kretsch­mann-Bonus im Landtag, weshalb eine Revolte gegen den Alten aus Laiz schwer vorstellbar ist. Kretschmanns Wahlerfolge spülten auch wenig ambitionierte Abgeordnete in den Landtag. Die strukturelle Verankerung als Partei der linken Mitte gelang nicht so, wie es einige Strategen geplant hatten.

Nun befinden sich die Grünen aufgrund handwerklicher Fehler in Berlin und der Herausforderungen durch die Zeitenwende in einer inhaltlichen und personellen Krise. Verlieren die Grünen die nächste Bundestagswahl, droht keine Existenzkrise, aber sie müssten sich dann neu sortieren. Von einer Partei, die sich als moralisch motivierter Taktgeber einer ökolo­gischen Modernisierung versteht, müsste sie sich zu einer echten Brückenpartei entwickeln, die ihre ökologischen Ziele mit der Gesellschaft entwickelt und nicht gegen sie. So wie es ­­ – zehn Jahre vor Habecks ­Heizungsgesetz – Kretschmann in Baden-Württemberg erfolgreich vorgemacht hat.

Nicht der erforderliche Machtwille

Deshalb ist die Stuttgarter K-Frage für die Öko-Partei so bedeutend und waren die Auftritte von Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir vor der wütenden Bauernschaft in Erlenbach und Ellwangen keine lästigen Pflichttermine, sondern wurden von der Partei als Test gesehen, ob der mögliche Kandidat in einem für die Grünen ausgesprochen feindlichen Umfeld etwas gewinnen kann. Das Ergebnis dieses Tests: Ja, er kann. Nach den Europa- und Kommunalwahlen könnte Özdemir seine Bereitschaft erklären, die Nachfolge anzutreten. In jedem Fall hat der Ul­tra-Realo im Landesverband mehr Fans als in der Bundestagsfraktion.

Für einen Wechsel innerhalb der Legislaturperiode nach dem hessischen Modell brachten die Grünen nicht den erforderlichen Machtwillen auf – sie warteten, bis die CDU diese Frage entschied. Denn einen ­Kretschmann-Nachfolger will die CDU nicht mitwählen. Sie will nicht in dieselbe Falle laufen wie die Grünen in Hessen, die während der ­Legislaturperiode Boris Rhein zum Nachfolger wählten und ihm zu einem guten Start verhalfen. Zur Belohnung sitzen sie nun auf der Oppositionsbank.

Gute Chancen der CDU

Im Moment sind die Chancen der CDU, mit ihrem jungen Landesvorsitzenden Manuel Hagel wieder den Ministerpräsidenten zu stellen, so gut wie seit 16 Jahren nicht. Die CDU profitiert von der grünenkritischen Stimmung – bei den Themen Migration und Wirtschaft trauen die Bürger den Konservativen mehr zu. Die schlechte Bilanz der grün-schwarzen Landesregierung – die Probleme bei der Energiewende, in der Schulpolitik und beim Bürokratieabbau – hat die CDU zwar mitzuverantworten, aber Hagel spielt der Wunsch nach einem Neuanfang in die Hände. In jüngsten Umfragen liegen die Grünen zehn Prozent hinter der CDU.

Die Zukunftsaussichten der Grünen sind dennoch viel besser, als es in der aktuellen kulturkämpferischen Stimmung zwischen woken Städtern und aufmüpfigen Bauern den Anschein hat: Im parteipolitischen Spektrum rechts der Mitte ist derzeit viel mehr in Bewegung als bei den linken Parteien. Die Grünen haben bundesweit ein Stammwählerpotential von 14 Prozent, in Baden-Württemberg dürfte es bei 20 Prozent liegen. Bei den Themen Ökologie und linksliberaler Flüchtlings- und Bürgerrechtspolitik werden sie künftig ein Alleinstellungsmerkmal haben. Je aggressiver es im rechtsex­tremen Bereich wird, desto mehr neue Chancen ergeben sich für die Grünen. Allerdings setzt das voraus, dass an der Frontlinie starke Super-Realos mit einem Gespür für die Veränderungsbereitschaft einer nervösen Gesellschaft stehen. Das sind das Erbe und die Aufgaben, die Winfried Kretsch­mann seiner Partei hinterlässt.

News Related

OTHER NEWS

Ukraine-Update am Morgen - Verhandlungen mit Moskau wären „Kapitulationsmonolog" für Kiew

US-Präsident Joe Biden empfängt Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus. Evan Vucci/AP/dpa Die US-Regierung hält Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland zum jetzigen Zeitpunkt für „sinnlos”. Bei einem Unwetter in Odessa ... Read more »

Deutschland im Wettbewerb: Subventionen schaden dem Standort

Bundeskanzler Olaf Scholz am 15. November 2023 im Bundestag Als Amerikas Präsident Donald Trump im Jahr 2017 mit Handelsschranken und Subventionen den Wirtschaftskrieg gegen China begann, schrien die Europäer auf ... Read more »

«Godfather of British Blues»: John Mayall wird 90

John Mayall hat Musikgeschichte geschrieben. Man nennt ihn den «Godfather of British Blues». Seit den 1960er Jahren hat John Mayall den Blues geprägt wie nur wenige andere britische Musiker. In ... Read more »

Bund und Bahn: Einigung auf günstigeres Deutschlandticket für Studenten

Mit dem vergünstigten Deutschlandticket will Bundesverkehrsminister Wissing eine junge Kundengruppe dauerhaft an den ÖPNV binden. Bei der Fahrkarte für den Nah- und Regionalverkehr vereinbaren Bund und Länder eine Lösung für ... Read more »

Die Ukraine soll der Nato beitreten - nach dem Krieg

Die Ukraine soll nach dem Krieg Nato-Mitglied werden. Die Ukraine wird – Reformen vorausgesetzt – nach dem Krieg Mitglied der Nato werden. Das hat der Generalsekretär des Militärbündnisses, Jens Stoltenberg, ... Read more »

Präsidentin droht Anklage wegen Tod von Demonstranten

Lima. In Peru wurde eine staatsrechtlichen Beschwerde gegen Präsidentin Dina Boluarte eingeleitet. Sie wird für den Tod von mehreren regierungskritischen Demonstranten verantwortlich gemacht. Was der Politikerin jetzt droht. Perus Präsidentin ... Read more »

Novartis will nach Sandoz-Abspaltung stärker wachsen

ARCHIV: Das Logo des Schweizer Arzneimittelherstellers Novartis im Werk des Unternehmens in der Nordschweizer Stadt Stein, Schweiz, 23. Oktober 2017. REUTERS/Arnd Wiegmann Zürich (Reuters) – Der Schweizer Pharmakonzern Novartis will ... Read more »
Top List in the World