Die Menschenrechtsorganisation hat israelische Angriffe auf Rafah untersucht und kritisiert den Einsatz der Armee scharf. Worauf stützt Amnesty International seine Vorwürfe?
Angriff auf Rafah am 12. Dezember 2023
Frau Müller-Fahlbusch, Amnesty International hat Angriffe des israelischen Militärs auf Rafah im Dezember und Januar untersucht. Was haben Sie herausgefunden?
Amnesty International hat drei Luftangriffe im Dezember 2023 und einen Angriff im Januar 2024 untersucht. Allein bei diesen vier Angriffen wurden mindestens 95 Menschen getötet, darunter mindestens 42 Kinder. Das älteste Opfer war 86 Jahre alt, das jüngste drei Wochen.
Alle vier untersuchten Angriffe auf Wohnhäuser in Rafah fanden zu einem Zeitpunkt statt, zu dem Rafah als „sicherer“ deklariert wurde. Nach der zwangsweisen „Evakuierung“ der Bevölkerung des nördlichen Gazastreifens lebten zum Zeitpunkt der Angriffe über eine Million Menschen in Rafah, darunter ein Großteil Binnenflüchtlinge.
Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Bei allen vier Angriffen konnten wir keinerlei Anzeichen dafür finden, dass die Gebäude legitime militärische Ziele darstellten oder dass die Personen in den Gebäuden legitime militärische Ziele waren. Das begründet die ernsthafte Sorge, dass es sich bei den Angriffen entweder um direkte oder um wahllose Angriffe auf Zivilist:innen und zivile Objekte gehandelt hat.
Sowohl direkte als auch wahllose Angriffe auf Zivilpersonen stellen Kriegsverbrechen dar. Die Unterscheidung von Kombattanten und Zivilpersonen beziehungsweise von militärischen und zivilen Objekten ist ein zentrales Prinzip im humanitären Völkerrecht. Wir fordern deshalb, die benannten Angriffe als Kriegsverbrechen zu untersuchen.
Ein harter Vorwurf. Was sagt die israelische Militärführung dazu?
Wir haben unsere Untersuchungsergebnisse und eine Reihe von Fragen am 19. und am 30. Januar an die israelischen Streitkräfte übermittelt, bis dato jedoch keine Rückmeldung erhalten.
Wie kommen Sie an glaubwürdige Informationen aus dem abgeriegelten Gazastreifen?
Wir arbeiten seit vielen Jahren mit einem festen Consultant im Gazastreifen. Amnesty konnte alle vier Angriffsorte besichtigen sowie Foto- und Videomaterial der Angriffe und der Schäden sichern und auf ihre Echtheit prüfen.
Wie läuft das konkret ab?
Das Amnesty Crisis Evidence Lab hat Satellitenaufnahmen, Fotos und Videos überprüft und mithilfe von Geodaten verifiziert. Amnesty-Experten für Waffen und Waffensysteme konnten die eingesetzte Munition identifizieren.
In Ihrem Bericht heißt es, dass Israel es versäumt habe, die Zivilbevölkerung „wirksam“ vor den Angriffen zu warnen. Woher wissen Sie das?
Wir haben Interviews mit Überlebenden aller vier Angriffe geführt. Drei der vier untersuchten Angriffe fanden nachts statt, also zu einem Zeitpunkt, bei dem die israelische Armee davon ausgehen musste, dass ein Großteil der Bewohner:innen zu Hause sein würde.
Der am 9. Januar erfolgte Angriff traf ein Gebiet, das wiederholt von der israelischen Armee als „sicher“ benannt wurde und in das Flüchtlinge aus anderen Gebieten fliehen sollten. Bei dem Angriff wurden 18 Zivilpersonen getötet, darunter zehn Kinder und vier Frauen.
Israel hat die Angriffe auf Rafah verstärkt. Haben Sie Erkenntnisse, ob Vorsichtsmaßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung ergriffen worden sind?
Wir haben die aktuellen Ereignisse noch nicht im Detail untersucht.
Sie kritisieren scharf mögliche Kriegsverbrechen der Israelis, wie sieht es mit denen der Hamas aus?
Wir untersuchen und kritisieren Kriegsverbrechen und Verletzungen internationalen Rechts unabhängig davon, von wem diese begangen werden. Amnesty hat die vorsätzlichen massenhaften Tötungen von Zivilist:innen sowie die Entführungen und Geiselnahmen von Zivilpersonen durch die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen ab dem 7. Oktober 2023 als Kriegsverbrechen verurteilt.
Auch der wahllose Raketenbeschuss auf Israel stellt ein Kriegsverbrechen dar. Wir fordern alle Konfliktparteien zu einem sofortigen Waffenstillstand auf, um weitere Opfer unter der Zivilbevölkerung zu verhindern und den Zugang zu lebensrettenden Hilfsgütern für die Menschen im Gazastreifen sicherzustellen.
Das Gespräch wurde schriftlich per E-Mail geführt.
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