„Ukraine verliert das Momentum“ – Markus Reisner, Oberst des österreichischen Heeres, im Interview

„ukraine verliert das momentum“ – markus reisner, oberst des österreichischen heeres, im interview

Auch im zweiten Kriegswinter meldet die Ukraine hohe Opferzahlen.

21 Monate oder alternativ auch 93 Monate dauert der Krieg in der Ukraine nun an. Es ist der zweite Kriegswinter, der der Ukraine nun bevorsteht. Präsident Wolodymyr Selenskyj deutet einerseits Gespräche über die ukrainische Friedensformel an. Auf der anderen Seite gibt sich Wladimir Putin immer siegessicherer. Und was passiert in diesen Tagen an den Frontabschnitten im Süden und Osten der Ukraine?

Dafür hat die Berliner Zeitung mit Markus Reisner gesprochen. Er ist Offizier des österreichischen Bundesheeres und kommandiert im Rang eines Oberst die Garde in Wien. Der 45-Jährige veröffentlichte im Zuge der russischen Invasion mehrere Analysevideos über den Krieg, mit denen er auch über die österreichischen Grenzen hinaus bekannt wurde. Auch in der Berliner Zeitung äußerte sich Reisner zum Krieg – zur Drohnenpolitik sowie zur Sommeroffensive der Ukraine. Die Berliner Zeitung konnte telefonisch mit Markus Reisner sprechen.

Berliner Zeitung: Herr Reisner, die ukrainische Sommeroffensive ist gescheitert. Wie werden die kommenden Wochen und Monate an der Front aussehen?

Markus Reisner: Ukrainische Offizielle haben kürzlich eingestanden, dass die Sommeroffensive nicht den gewünschten Erfolg gebracht hat, also praktisch gescheitert ist. Nun ist die Ukraine mehr oder weniger gezwungen, in die Verteidigung überzugehen.

Oleksandr Syrskyj, ranghoher Kommandeur der ukrainischen Bodentruppen, beschrieb kürzlich die schwierige Lage an der Front im Donbass.

Genau. Die Ukraine wird nun Entscheidungen treffen müssen zum Wohle der Soldaten, die möglicherweise ja auch implizieren, dass man gewisse Geländeabschnitte hergeben muss. Für den kommenden Winter hat die Ukraine folgenden Plan: In die Defensive gehen und eigenes Gelände so gut wie möglich halten, um halbwegs gut über die kalten Monate zu kommen.

Wie wird Kiew das schaffen können?

Auf der strategischen Ebene ist es für die Ukraine wichtig zu versuchen, die Tiefe des Landes weiter so gut wie möglich zu schützen. In Erwartung einer weiteren strategischen Luftkampagne der Russen, die jetzt möglicherweise in den letzten Wochen auch schon begonnen hat. Auf taktischer Ebene ist der russische Drohneneinsatz die größte Gefahr. Insofern wird Kiew versuchen, durch den gezielten Einsatz von Störsystemen das elektromagnetische Feld wieder zu beherrschen. Darüber hinaus muss die Ukraine versuchen, auf operativer Ebene ihre eigenen Kräfte dahingehend zu konsolidieren, dass sie möglicherweise nächstes Jahr auch wieder in der Lage sein wird, selbst die Initiative zu ergreifen. Und deshalb ist es auch wichtig, dass man die Ukraine noch weiter unterstützen müsste mit weitreichenden Waffensystemen.

Welche Besonderheit haben die kalten Temperaturen im Kriegsgebiet? Im Donbass sind es nachts um die -5 Grad.

Die kalten Temperaturen sind ein Dilemma – die Kampfkraft der Truppen sinkt sehr schnell in diesen Tagen. Besonders dann, wenn sich die Soldaten nicht mehr nachhaltig aufwärmen können. Durch die gescheiterte Sommeroffensive, dazu mit den Temperaturen um den Gefrierpunkt, entsteht folgendes Problem: Die Ukraine war nicht in der Lage, große Städte zu befreien. Nun liegen die Soldaten in Schützengräben und sind dem ostukrainischen Wind und Wetter ausgesetzt. Deshalb versucht man, alle zwei bis drei Tage die Truppen auszuwechseln. Sie werden dann mit gepanzerten Fahrzeugen an die Front vorgefahren, was aber wiederum mit hohen Verlusten verbunden ist. Das sind nämlich genau die Momente, an denen Russland versucht, mit Drohnen oder Lenkwaffen diese Transporte anzugreifen.

Die russischen Truppen sind denselben Witterungen ausgesetzt, oder?

Der Unterschied: Die Ukraine braucht Winterquartiere, um die kommenden Monate zu überstehen. Die Russen haben sich hingegen in den vergangenen Wochen belastbare Unterkünfte gebaut. Es trifft sie nur dort, wo sie selbst im Angriff sind. Wenn man keine winterfesten Unterkünfte hat, dann sinkt die Kampfkraft relativ schnell. Kommt man beispielsweise gerade aus dem Gefecht in einem Sumpfgebiet oder im Wasser, ist eine rasche Trocknung unabdingbar. Eine insgesamt schwierige Situation für die Soldaten.

„ukraine verliert das momentum“ – markus reisner, oberst des österreichischen heeres, im interview

Kurze Feuerpause zur Weihnachtszeit? Am Sophienplatz in Kiew wird ein Weihnachtsbaum aufgestellt.

Welche Rolle spielen die Weihnachtsfeiertage und das Neujahrsfest auf dem Schlachtfeld? Könnte es eine Feuerpause geben?

Wir hatten das ja auch letztes Jahr gesehen: Für ein paar Stunden kam es zur Pause. Andererseits haben Feiertage wie das russische Neujahr auch eine symbolische Bedeutung für Moskau. Deshalb können die Feiertage durchaus auch ein Beschleuniger von Kämpfen sein, weil Putin bis zum Jahreswechsel etwas präsentieren möchte. Es kann also sowohl zu einer kurzen Feuerpause kommen als auch zur Intensivierung der Kämpfe.

Der Oberbefehlshaber der Ukraine, Walerij Saluschnyj, beschrieb in einem Gastbeitrag im Economist eine Pattsituation. Wie bewerten Sie den Artikel?

Es war für einen General das Maximum des Sagbaren, ohne die Moral der eigenen Truppen zu drücken. Saluschnyj war ehrlich: Die Lage auf dem Schlachtfeld ist eine Pattsituation. Er braucht Mittel, um diese Pattsituation überwinden zu können. Und wenn das nicht der Fall ist, dann kann man sich also auf keine schnellen Siege einstellen. Auch in Hinblick auf die gescheiterte Sommeroffensive wollte er wohl Erwartungen vorzeitig etwas dämpfen.

Saluschnyj sprach von einem nötigen Technologiesprung. Gibt es überhaupt eine Waffengattung, die für die Ukraine der „Gamechanger“ werden könnte?

Der Punkt ist, dass eine Armee immer nur dann funktioniert, wenn alle Teilsysteme, alle Teilstreitkräfte zum Zusammenwirken gebracht werden können. Wir müssen uns das wie eine Uhr vorstellen: Sie kann uns die Zeit nur dann präzise anzeigen, wenn all ihre Schräubchen und Rädchen ineinandergreifen. Das heißt, der Leopard 2 oder die ATACMS-Raketen sind alleine nicht der Game Changer. Es ist die Symbiose all dieser Systeme. Wie General Saluschnyj schon angesprochen hat; die Ukraine braucht Waffensysteme, vor allem Störsysteme, die russische und iranische Drohnen vom Himmel holen. Damit sie dann das elektromagnetische Feld, jenes Feld, wo gefunkt und kommuniziert wird, beherrschen. Dann könnte man wieder in die Offensive übergehen.

Während innenpolitisch zumindest ein Zwist zwischen Präsidenten und Oberbefehlshaber die Ukraine bestimmt, nimmt auch der Druck von außen zu: die Lkw-Blockade, das Militärpaket aus den USA steht auf der Kippe, Ungarn blockiert innerhalb der EU.

Den amerikanischen Leitmedien können wir ganz gut entnehmen, dass derzeit eine Diskrepanz zwischen der Ukraine und dem engsten Verbündeten, der USA, herrscht. Besonders die Offensive enttäuschte doch einige Akteure in den USA. Die Resignation nimmt zu. Und das ist genau das, was Russland erwartet. Man erkennt erste Risse, sitzt die Situation aus, das Momentum im Informationsraum verschiebt sich immer mehr Richtung Moskau. Die Ukraine versucht natürlich Angriffe durchzuführen, um im Gespräch zu bleiben. Denn sie braucht Erfolgsgeschichten.

„ukraine verliert das momentum“ – markus reisner, oberst des österreichischen heeres, im interview

Kilometerlange Lkw-Blockaden treffen die fragile ukrainische Wirtschaft empfindlich.

Was passiert, wenn militärische Erfolgsgeschichten ausbleiben?

Dann wird es schwierig. Niemand ist bereit, jemanden zu unterstützen, der offensichtlich nicht in der Lage ist, Erfolge zu erreichen. Das ist leider die traurige Wahrheit in der Sache.

Wie ist die Stimmung in Moskau? Russischen Medien entnimmt man eine gewisse Siegessicherheit, Putin sprach erst kürzlich zu Militärs und agiert sehr selbstbewusst.

Das angesprochene Video ist bezeichnend, weil es die Grundstimmung innerhalb der Elite in Russland zeigt. Elf oder bald sogar zwölf Sanktionspakete werden es nicht geschafft haben, die Bevölkerung von ihrem Präsidenten und seiner Führung zu trennen. Im Gegenteil: Man steht zusammen, spricht sich Mut zu. Das wankelmütige Verhalten des Westens ist dazu noch Wasser auf die Mühlen der russischen Propaganda. Die Zeit spielt Putin in die Hände.

Vielen Dank für das Gespräch!

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