„Meinungsfreiheit muss Ideen einschließen, die beleidigend und verstörend sind“

Weltweit wird an Universitäten über Meinungsfreiheit gestritten. In Großbritannien kontrolliert nun eine eigens dafür geschaffene Behörde, ob das freie Wort eingeschränkt wird – bei Verstößen drohen Bußgelder in Millionenhöhe. Der zuständige Direktor erklärt, wo die Grenzen des Sagbaren liegen.

„meinungsfreiheit muss ideen einschließen, die beleidigend und verstörend sind“

Aktivisten protestieren in Oxford gegen einen Auftritt der Professorin Kathleen Stock picture alliance/dpa/PA Wire/Jonathan Brady

Der Fall der Philosophin Kathleen Stock sorgte in Großbritannien im Jahr 2021 für Aufsehen: Die Professorin war nach heftigen Anfeindungen von Studierenden wegen genderkritischer Äußerungen von ihrem Posten an der Universität Sussex zurückgetreten.

Schon zuvor hatte das Thema die konservative Regierung unter dem damaligen Premierminister Boris Johnson beschäftigt. Um die Meinungsfreiheit an Universitäten in Großbritannien zu garantieren, hatte London ein Gesetz auf den Weg gebracht, das im Mai vergangenen Jahres in Kraft trat. In diesem Rahmen wurde erstmals ein „Meinungsfreiheitsbeauftragter“ für Hochschulen in England ernannt.

Künftig wird der ehemalige Cambridge-Philosophieprofessor Arif Ahmed als Direktor für Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit bei der unabhängigen Hochschulaufsichtsbehörde Office for Students (OfS) kontrollieren, ob Universitäten die freie Rede gewährleisten. Dafür hat ihn die Regierung mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet. Wie umfassend diese sind, erklärt der 50-Jährige im Gespräch mit WELT.

WELT: Herr Ahmed, Sie wurden von der konservativen Regierung ernannt. Premierminister Rishi Sunak positioniert sich in Sachen Meinungsfreiheit klar: Er will dem „Woke-Unsinn“ ein Ende setzen. Wie machen Sie sich davon frei?

Arif Ahmed: Das bin ich ohnehin. Die Regierung erwartet von mir, dass ich mich völlig unparteiisch und neutral verhalte. Das kann ich nur unterstreichen. Im Hinblick auf den Schutz der Meinungsfreiheit ist es mir völlig gleichgültig, ob eine Position der Haltung der Regierung entspricht oder nicht.

„meinungsfreiheit muss ideen einschließen, die beleidigend und verstörend sind“

Arif Ahmed, 50, prüft, ob die Meinungsfreiheit an englischen Universitäten gewährleistet wird Office for students

WELT: Was wird sich an englischen Universitäten infolge Ihrer Ernennung ändern?

Ahmed: Ab August wird es ein kostenloses Beschwerdesystem für Wissenschaftler, Gastdozenten und Studierende geben. Wer sich bislang in seiner Meinungsfreiheit eingeschränkt fühlte, konnte nur vor Gericht ziehen und musste mit hohen Kosten rechnen. Künftig können sich diese Personen bei uns beschweren. Zum Beispiel kann sich ein Professor bei uns melden, wenn ihm eine Universität verbietet, bestimmte Module zu unterrichten, weil Studierenden sich durch deren Inhalt gekränkt fühlen. Wir würden den Fall dann prüfen und – sollte die Meinungsfreiheit verletzt worden sein – eine Empfehlung an die Universität aussprechen, zum Beispiel das Modul wieder unterrichten zu lassen oder eine Entschädigung an ihn zu zahlen.

Wir gehen davon aus, dass diesen Empfehlungen entsprochen wird. Andernfalls können wir etwa die Auszahlung von Geldern, die die Universitäten von uns erhalten, an Bedingungen knüpfen. Außerdem dürfen wir Bußgelder verhängen. Diese können sich auf bis zu zwei Prozent der Universitätseinnahmen oder 500.000 Pfund (etwa 583.000 Euro, Anm. d. Red.) belaufen, je nachdem, welcher Wert höher ist. Je nach Größe der Einrichtung können mehrere Millionen Pfund anfallen.

WELT: Inwieweit kann Ihre Organisation gegen die Einschränkung der Meinungsfreiheit von Studierenden und Lehrenden durch ausländische Akteure vorgehen? In Großbritannien gibt es etwa Konfuzius-Institute, die der chinesischen Regierung nahestehen, die für Zensur bekannt ist.

Ahmed: Ich schicke voraus, dass ich nicht auf ein bestimmtes Land eingehen möchte. Unsere Aufgabe ist es, die Meinungsfreiheit für alle Studierenden zu gewährleisten, unabhängig davon, ob sie aus Großbritannien oder aus dem Ausland kommen. Nehmen wir an, es gibt eine ausländische Einrichtung, die an einer englischen Universität angesiedelt ist. An dieser Einrichtung lehren Professoren und lernen Studierende aus diesem Land, sie erhält außerdem Gelder von der ausländischen Regierung. Nun wird ein Student aus diesem Land von der dortigen Regierung dazu gedrängt, sich über Vorlesungen eines Professors zu beschweren, der sich kritisch über sein Heimatland äußert. Der Professor wird daraufhin entlassen. Legt dieser Beschwerde ein, könnte dieses Szenario vom OfS als Verstoß gegen die Meinungsfreiheit bewertet werden. Als Konsequenz könnte die Einrichtung geschlossen werden.

Künftig können wir von den Universitäten auch verlangen, dass sie die Quellen ihrer Finanzierung aus dem Ausland offenlegen und gegebenenfalls erklären, inwieweit die Finanzierung an Bedingungen geknüpft ist, wenn wir glauben, dass dadurch die Meinungsfreiheit gefährdet ist. Auf diese Weise können wir eine mögliche Einflussnahme auch ohne direkte Beschwerde erkennen.

WELT: Ihre Rolle ist in dieser Form in Europa einmalig. Warum besteht gerade in Großbritannien eine Notwendigkeit dafür?

Ahmed: Umfragen zeigen, dass sich Studierende und Lehrende an britischen Hochschulen im europäischen Vergleich überdurchschnittlich stark in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt fühlen. In einer Umfrage der britischen Gewerkschaft „University and College Union“ aus dem Jahr 2017 gaben 35 Prozent der befragten britischen Akademiker an, sich selbst zu zensieren – im Vergleich zu 19 Prozent in anderen EU-Ländern. Auch bei den Studierenden geht der Trend in eine ähnliche Richtung. Die aktuelle National Student Survey des OfS zeigt, dass jeder siebte Student sich nicht frei fühlt, seine Meinung zu äußern. Und auf dem Academic Freedom Index liegt Großbritannien derzeit auf Platz 60.

WELT: Sollte an einer Universität, dem Ort der freien Debatte, alles gesagt werden dürfen? Was sind die Grenzen des Sagbaren?

Ahmed: Am OfS sind wir der Meinung, dass Studierende ein Umfeld brauchen, in dem sie mit Mitarbeitern, Gastrednern und Akademikern innerhalb des gesetzlichen Rahmens frei diskutieren können. Nur so kann eine qualitativ hochwertige Ausbildung gewährleistet werden. Natürlich kann man nicht alles sagen. So gibt es beispielsweise Gesetze gegen Aufrufe zu Gewalt oder rassistischen Hass, die eingehalten werden müssen.

WELT: Welche Bedeutung hat Meinungsfreiheit im akademischen Kontext?

Ahmed: Im Laufe der Geschichte wurde der wissenschaftliche und soziale Fortschritt durch den Widerstand gegen vermeintliche unumstößliche Wahrheiten vorangetrieben, manchmal auch durch Positionen, die für die damalige Zeit schockierend, beleidigend und verstörend waren. Das sieht man an der amerikanischen Bürgerrechts- sowie der Schwulenrechts- und Frauenrechtsbewegung.

Deshalb muss die Meinungsfreiheit innerhalb des Gesetzes Ideen einschließen, die schockierend, beleidigend und verstörend sind (gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention, Anm. d. Red.). Meinungsfreiheit fördert zudem die persönliche Entwicklung der Studierenden, da sie ermutigt werden, frei über Ideen zu diskutieren, denen sie zunächst vielleicht ablehnend gegenüberstehen. Dadurch entwickeln sie Resilienz, Verständnis und Toleranz.

WELT: Wie würden Sie damit umgehen, wenn sich eine Transperson bei Ihnen darüber beschwert, dass jemand ihr gegenüber ihre Transgeschlechtlichkeit in Abrede stellt und sie absichtlich mit einem falschen Namen anspricht?

Ahmed: Es gilt zu unterscheiden zwischen dem Inhalt des Gesagten und der Art und Weise, wie das Gesagte ausgedrückt wird. Ein Standpunkt kann legal und legitim geäußert werden, etwa in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift oder in einer Vorlesung. Wenn eine Person direkt angesprochen und eine einschüchternde Atmosphäre für sie geschaffen wird, etwa aufgrund ihrer Religion oder Herkunft, dann kann dies eine Belästigung darstellen und wäre daher nicht geschützt.

Die Aufgabe des OfS ist es jedoch nicht, Studenten zu bestrafen, die sich gesetzeswidrig äußern. Unsere Aufgabe geht in die entgegengesetzte Richtung: Wir stellen sicher, dass alles, was legitim ist, auch gesagt werden kann.

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