Vier Fragen an die Literaturagentin Elisabeth Ruge

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Vier Fragen an die Literaturagentin Elisabeth Ruge

Was lesen Sie?

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Elisabeth Ruge

Ich lese zurzeit vor allem, was mich in der Wohnung meines Vaters, des Journalisten Gerd Ruge, umgibt. Seit seinem Tod im Herbst 2021 ist hier in München ein umfangreiches Archiv zusammengekommen, das nun Anfang Februar in die Staatsbibliothek Unter den Linden wandert. Auch seine Bibliothek gehe ich gerade noch einmal durch, und dabei ist mir Elisabeth Plessens zweiter Roman „Kohlhaas“ in die Hände gefallen, den ich vor vielen Jahren, kurz nach seinem Erscheinen, gelesen habe und in dem ich nun wieder fasziniert blättere. Dieser Kohlhaas ist doch eine der staunenswertesten Figuren der deutschen Literatur, bei Kleist und auch bei Plessen. Eine Stelle lässt unvermittelt die Vergangenheit schmerzvoll in unsere Gegenwart greifen: „Und wie Kohlhaas seine Freunde verlor, so verloren Salomon, Moses und Ya’akov ihre Väter.“ Diese Väter sollen christliche Kinder ermordet und Hostien geschändet haben. Kohlhaas erlebt, wie sie im Berlin des 16. Jahrhunderts nach einem Schauprozess auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Zwischen den Büchern ziehe ich auch eine herausgerissene Seite der „Zeit“ hervor. Es ist Jens Jessens Laudatio auf Götz Aly anlässlich der Verleihung des Ludwig-Börne-Preises im Jahr 2012. „Der Antizionismus war einer der linken Reflexe, der mit bestem Gewissen und ganz ohne Erinnerung an seine antisemitischen Bestandteile ausgelebt wurde (…)“. So viele kluge und wache Gedanken, so viel Durchdringung, so viel Erkenntnis. Und doch immer wieder die hässliche, menschenverachtende, tödliche Präsenz des Antisemitismus. Wie Elisabeth Plessen lakonisch konstatiert: „Es war viel los. Es war jetzt Außerordentliches los in der Stadt.“ Ja.

Was sehen Sie?

Zwischen dem Blättern, Sortieren, dem In-Kisten-Verstauen muss man raus. Zum Beispiel ins ABC-Kino in der Herzogstraße. Absolut schmucklos, karge Sitzreihen, aus der Zeit gefallen. Aber super Filme. „The Holdovers“ gab es kürzlich an einem verschneiten Sonntagnachmittag als Preview. Inzwischen hat der Film bei den Golden Globes ein paar Preise abgeräumt, vor allem für die wunderbare Da’Vine Joy Randolph und für Paul Giamatti. Drei Außenseiter, alle in ihrer Trauer verkapselt, verbringen im Neuengland der frühen Siebzigerjahre unfreiwillig die Weihnachtstage miteinander. Zurückgelassen in einem leer gefegten Eliteinternat, finden sie für einen kurzen Moment zu einer Art Familie zusammen. Ein Film, in dem viel schlau und auch sehr witzig geredet wird und natürlich auch herrlich viel geraucht. Vielleicht ein bisschen kitschig, aber komplett unsentimental. Und Dominic Sessa, der so cool und müde aussieht wie der junge Bob Dylan, legt ein tolles Debüt hin.

Was hören Sie?

Am liebsten höre ich gerade das winterlich gedämpfte Piepsen der Vögel, die sich draußen in bitterer Kälte bei den Schalen mit Sonnenblumenkernen einfinden. Sie kommen in Gruppen wie die Kohlmeisen, die sich geschickt wie Minihelikopter herabfallen lassen. Oder auch einzeln wie die Blaumeise, ein kleiner aufgeplusterter Federball, oder das Rotkehlchen mit seinem zaghaften Ballett des Vor und Zurücks. Selbst der Buntspecht sitzt ab und zu vor der Balkontür, auch ein winziger Zaunkönig, der wie eine Maus zwischen den Blumentöpfen umherhuscht. Vor Kurzem habe ich hier, mitten in der Stadt, nachts ein Käuzchen gehört.

Was nervt Sie?

Ja, und was nervt mich? Mich nervt das rabiate Bauen in der Umgebung, die voranschreitende „Versiegelung“. Einfamilienhäuser werden abgerissen, es verschwinden die Gärten mit altem Baumbestand, mit Hecken und Stauden. Stattdessen uniforme Investorenkästen mit „Luxusapartments“, die die Grundstücke bis auf den letzten Zentimeter bepflastern. Vielleicht ein Hauch von Rollrasen als Zugeständnis an die „Natur“. Um etwa 45 Prozent sind die in Deutschland brütenden Vogelarten in den letzten zwei, drei Jahrzehnten zurückgegangen, darunter auch eine Vielzahl der einheimischen Singvögel. Es müssen ja gar nicht immer Parklandschaften sein. Was aber sein muss, das sind gescheite Bauvorschriften.

Elisabeth Ruge ist Literaturagentin und Autorin. Vor 30 Jahren gründete sie den Berlin Verlag, der Anfang Fe­bruar sein Jubiläum feiert.

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