Technischer Fortschritt: Warum wir unproduktiv werden

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Hohe Fixkosten, niedrige Grenzkosten: Hochleistungsrechner von Google am Stammsitz in Mountain View

Künstliche Intelligenz, selbstlernende Maschinen, Hochleistungsrechner und Datenautobahnen – wir glauben, dass wir durch den Einsatz dieser Technologien unsere Effizienz maximieren und daher immer produktiver werden. Das Gegenteil ist wahr: Die Produktivität der Industrieländer – gemessen am Ertrag in Relation zu den eingesetzten Faktoren Arbeit und Kapital – sinkt, und zwar seit Jahrzehnten. Das geht uns alle an, denn die Produktivität bestimmt Wettbewerbsfähigkeit, Renditen, Löhne und Wohlstand.

Unter den Ökonomen gibt es seit Langem eine Debatte darüber, warum wir heute nicht mehr solche Sprünge machen wie früher, als etwa die Dampfmaschine, die Elektrifizierung oder der ­Verbrennermotor eingeführt wurden. Manche verweisen auf die Dienstleistungsgesellschaft, in der wenig produktive Billigjobs bei McDonald’s oder Uber die Produktivitätsgewinne der Industrie überschatten. Die Lohnzurückhaltung soll diesen Effekt verstärkt haben.

Auch die lange Phase der Niedrigzinsen wird genannt, weil diese den Zwang zu modernster Technik abgemildert habe. ­Zudem die Demographie: Alternde Gesellschaften sind risikoscheu und wenig dynamisch; neue Technologien überfordern die betagten Konsumenten und verbreiten sich langsamer.

Amazon & Co. lassen grüßen

Der niederländische Ökonom Maarten De Ridder von der London School of Economics (LSE) führt nun in der angesehenen Fachzeitschrift “American Economic Review“

eine weitere Erklärung an: Die neuen digitalen Technologien ermöglichen es einer kleinen Gruppe von Spitzenunternehmen, die Konkurrenten derart abzuhängen, dass auf ­makroökonomischer Ebene die Gesamtproduktivität leidet. Amazon, Microsoft und Co. lassen grüßen.

Die Produktivitätsverluste entstehen nach De Ridders Analyse über eine Aushebelung des Wettbewerbs. Denn die Spitzenunternehmen konzen­trieren ihre Investitionen auf immaterielle („intangible“) Anwendungen, vor allem in den Aufbau digitaler Plattformen mithilfe ausgefeilter Software und Informationstechnologie. Die Fixkosten steigen dadurch.

Doch danach ermöglichen es die neuen Technologien den Unternehmen, bei minimalen Grenzkosten zu expandieren. Denn in der digitalen Welt verursacht jeder neue Kunde kaum zusätzlichen Aufwand. Die variablen Kosten bleiben gering.

Hersteller von Software etwa können ihre Produkte für neue Abnehmer mühelos vervielfachen. Bei Fluggesellschaften muss die Sitzreservierung eines neuen Passagiers nicht mehr wie früher durch einen Mitarbeiter erledigt werden; eine digitale Zeitung muss für einen neuen Leser auch keine weitere Ausgabe auf teurem Papier drucken und sie ihm an die Haustür liefern.

Ist die Klippe der Technologieeinführung einmal übersprungen, kann die Markteroberung starten – kostengünstig für das Unternehmen und oft auch für die Verbraucher. Denn der Anbieter ist in der Lage, die Preise so niedrig zu halten, dass die Konkurrenten nicht mehr mithalten können und es potentielle Angreifer erst gar nicht probieren. Kreative Zerstörung im Sinne des Ökonomen Joseph Schumpeter findet weniger statt.

Wachsende Machtballung

Viele Unternehmen scheitern beim Versuch, auf ein hohes immaterielles Niveau zu springen. De Ridder schreibt von „Externalitäten“ der Erfolgsstrategien, weil sie zahlreiche Firmen im Angesicht der enteilten Wettbewerber entmutigen. Die kleine Avantgarde erhöht ihre Produktivität, doch der Rest fällt zurück.

Die Kostenrechnung der Unternehmen wird also zunehmend durch Fixkosten bestimmt. Das schafft Wettbewerbsbarrieren, vor allem wenn die erfolgreiche Firma durch gute Forschungs- und Entwicklungsergebnisse überlegene Produkte auf den Markt bringt. Dazu sind die Marktführer in der Lage, weil sie hohe Gewinne einfahren.

Amerikanische und französische Unternehmensdaten zeigen einen erheblichen Zuwachs von „Mark-ups“, das sind die Überschüsse der Einnahmen über die Kosten. Diese Größe ist vergleichbar mit der Umsatzrendite, doch sie drückt sich in Bezug auf die Kosten aus und beschreibt daher besser, wie stark ein Unternehmen aus seiner Preissetzung Profit schlagen kann – etwa aufgrund von fehlendem Wettbewerbsdruck.

Die Zunahme von immateriellen Inputs ist ausgeprägt. Software machte 1980 noch 3 Prozent der Investitionen amerikanischer Unternehmen aus, 2019 waren es bereits 18 Prozent. Und die IT-Systeme müssen immer wieder erneuert werden. Das sind weitere Fixkosten, die den Wettbewerbern den Angriff erschweren.

De Ridders These stützen auch die Erkenntnisse über eine wachsende Machtballung in der Wirtschaft. Zwischen 1998 und 2019 nahm die Konzentration in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien in fast drei Vierteln von 685 untersuchten Branchen zu, ermittelte ein Forscherteam.

Ökonomen von Karl Marx bis Alfred Marshall haben schon im 19. Jahrhundert vorhergesagt, dass der technologische Fortschritt die Größenvorteile und damit die Konzentration beflügelt. Durch immaterielle Investitionen wie in Software wird dieser Effekt nun verstärkt. Die wachsende Bedeutung der Fixkosten hat weitreichende Konsequenzen – bis hin zur Inflation. Denn Löhne und Gehälter fallen als Treiber von Preissteigerungen weniger ins Gewicht, wie die Europäische Zentralbank beobachtet hat.

Hoffnung auf offenen Zugang

Die Investitionen der etablierten Unternehmen in IT-Plattformen sind meist auf die eigenen Bedürfnisse zugeschnitten; sie können damit von Wettbewerbern kaum kopiert werden – anders als patentierte Erfindungen nach Auslaufen des Patentschutzes. Die segensreiche Verbreitung technologischer Neuerungen ist damit begrenzt.

Bei der KI stellt sich auch die Frage, ob sie nur einem kleinen Kreis von geschlossenen Unternehmen vorbehalten bleibt oder ob die mit Open-Source-Technologie ausgestatteten Anbieter Erfolg haben. Diese könnte zu schnellerer Verbreitung führen und etwa europäischen Unternehmen Chancen bieten, meinen Fachleute.

Ob bei klassischer Software oder KI – die Hoffnung muss lauten, dass der Zugang für viele offen bleibt. De Ridder empfiehlt beispielsweise eine weitreichende Verbreitung von Coding-Fähigkeiten. Und er sieht eine Aufgabe für Regulierungsbehörden, die den Zugang zu Schlüsseltechnologien erzwingen könnten.

Über die Rolle der Wettbewerbsaufseher gehen die Meinungen freilich auseinander. Laut manchen Ökonomen ist der reine Blick auf Marktanteile überholt. Wenn ein Riese etwa innovativ bliebe, gäbe es keinen Grund einzugreifen, denn anders als bei einem verkrusteten Monopolisten profitieren die Konsumenten weiter von seinen Angeboten. Für eine gesamtwirtschaftliche Betrachtung ist der Blick auf den Rest der Unternehmen allerdings ebenso bedeutend.

Maarten De Ridder: Market Power and Innovation in the Intangible Economy, American Economic Review, 2024

G. Koltay, S. Lorincz, T. Valletti: Concentration and Competition: Evidence from Europe and Implications for Policy, CESifo Working Paper, 2022

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