Udo Samel liest Julien Greens „Adrienne Mesurat“

udo samel liest julien greens „adrienne mesurat“

Die „verdächtigen Spaziergänge“ sind für Adrienne Mesurat der Versuch, dem familiären Kerker zu entfliehen.

In seinen frühen Romanen – und „Adrienne Mesurat“ ist einer der besten – hat sich Julien Green einen Namen als Spezialist für menschliches Unglück und unselige Vereinsamung gemacht. Es sind subtile Psychothriller, Albträume in schlackenloser Prosa, in diesem Fall dazu eindringlich gelesen von dem Charakterschauspieler Udo Samel, der einen Film oder ein Stück schon aufwertet, wenn er nur eine Nebenrolle spielt. Umso schöner, dass er hier zehn Stunden im Alleingang zu hören ist.

Die achtzehnjährige Adrienne lebt im kleinen Ort La Tour-l’Évèque mit ihrem verwitweten Vater und ihrer kranken älteren Schwester wie eingesperrt in einer verschachtelten alten Villa. Julien Green, Sohn amerikanischer Eltern, war selbst in Paris geboren und aufgewachsen; die erstickende Provinzhölle, die er in seinem zweiten Roman schildert, ist eine nicht zuletzt aus der französischen Literatur gespeiste, aber ungemein glaubwürdig vermittelte Phantasmagorie.

Nur ein Traum vom Glück macht Adrienne das erstarrte Leben noch erträglich. Ein einziges Mal hat sie der neu zugezogene Arzt Maurecourt beim Vorüberfahren flüchtig gegrüßt. Das reicht Adrienne, um sich kopfüber in den Liebeswahn zu stürzen. Die Straße, die der Doktor entlanggefahren ist, wird zu ihrem täglichen Passionsweg. Die verbitterte Schwester kommt ihren „Heimlichkeiten“ aber bald auf die Schliche. Gemeinsam mit dem Vater verschärft sie die Überwachung der Achtzehnjährigen.

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Meister der finsteren Gemütlichkeit

Statt der verdächtigen Spaziergänge schlägt der alte Mesurat ein bewährtes Mittel gegen Langeweile vor. Man werde fortan abends zu dritt Karten spielen! Adrienne erbleicht angesichts dieser Idee. Die Qual des Kartenspiels, dessen Abläufe mit perfider Flaubert’scher ­Akribie geschildert werden, erscheint ihr „wie ein böser Traum“. Udo Samel wird zum Meister der finsteren Gemütlichkeit, wenn er die Ermahnungsrufe von Monsieur Mesurat wiedergibt: „Oh nein, das kannst du doch nicht spielen!“ Hinter Mesurats Jovialität lauert die Herrschsucht eines Mannes, der keinen Regelverstoß duldet, nicht beim Kartenspiel und nicht im Leben. Eigentlich gehört diese engstirnige Figur in die Komödie, aber das Beklemmende des Romans besteht darin, dass Green aus diesem Material eine unerbittliche Tragödie macht. Udo Samel, der auch ein großer Komödiant ist und das in seinen legendären Schaubühnen-Jahren im Gespann mit Peter Simonischek oft unter Beweis gestellt hat, folgt Green dabei konsequent und verzieht keinen Mundwinkel zu einem Lächeln der Nachsicht. Er verleiht dem alten Mesurat etwas Teuflisches, wenn er den sonst angespannt ruhigen Ton der Lesung aufbricht und absurde Beschuldigungen schreit: „Du willst dich mit ihm treffen, wann es dir passt. Jeden Abend zu ihm laufen wie früher! Aber du hast die Rechnung ohne mich gemacht! Was würdest du nicht darum geben, mich sterben zu sehen. Keine Angst, ich bin robust!“ Sekunden später stirbt er aber doch, weil Adrienne ihn in jähem Hass anspringt, sodass er kopfüber die Treppe hinunterstürzt.

Allerdings ist sie psychisch gar nicht mehr in der Lage, nach diesem vermeintlichen Unglücksfall ihre plötzliche Freiheit als wohlhabende Erbin zu nutzen. Eine kleine Reise in die Umgebung wird zum Desaster, der Aufbruch ins Leben endet im Zusammenbruch. Der von Adriennes Gefühlen irritierte Doktor Maurecourt erklärt sich schließlich zu einem klärenden Gespräch bereit. Bisher nur Projektionsfläche, entpuppt er sich als edler, früh gealterter und selbst an einer schweren Krankheit leidender Mann, der im Dienst an den Kranken aufgeht. Adrienne aber kann er nicht helfen; hier nützt keine Besonnenheit.

Klinische Distanz zur Protagonistin

In ihrem halluzinatorischen Realismus, ihrer abgründigen Psychologie und ihren bedrängten Hauptfiguren haben Greens Romane eine gewisse Nähe zu Kafkas Welt. Offenbar hat Green ihn früh gelesen; jedenfalls hielt er die deutsche Erstübersetzerin von „Adrienne Mesurat“, Irene Kafka, 1928 für eine Schwester des Prager Genies (tatsächlich war sie eine Cousine). Diese ungekürzte Lesung aus dem Jahr 2001 aber hat die Neuübersetzung von Elisabeth Edl zur Vorlage, nicht nur die frischeste Fassung, sondern auch dichter am Original.

So nah der Roman bei seiner leidenden Heldin ist – in seinem klassischen Stil von unziselierter Prägnanz, der zum intensiven Hörerlebnis viel beiträgt, bewahrt er zugleich eine klinische Distanz, die es richtig erscheinen lässt, dass dieses Hörbuch von einem Mann mittleren Alters (und nicht von einer jungen Schauspielerin) eingelesen wurde. Aber auch wenn Julien Green nicht zu formalen Experimenten neigte – in der seelischen Verdunkelung war er auf der Höhe der Moderne. In der Schlussszene stellt man sich das Gesicht Adriennes vor wie die panische Physiognomie auf Edvard Munchs ikonischem Bild „Der Schrei“. Zuletzt noch beraubt von einer bösartigen Nachbarin, die sich als mütterliche Freundin gerierte, irrt die junge Frau psychotisch durch die Gegend, wird von Passanten angesprochen und kennt ihren eigenen Namen nicht mehr. Green beschreibt eine Welt, die von allen guten Geistern verlassen ist. Dass er sich später wieder dem Katholizismus zuwandte, mit dem er wegen seiner Homosexualität lange gehadert hatte, erscheint angesichts der Erlösungsbedürftigkeit seiner Erzählwelt nur konsequent.

Julien Green: „Adrienne Mesurat“. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl, gelesen von Udo Samel. DAV, Berlin 2024. 1 MP3-CD, 601 Min., 15 €.

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