Drei Insulaner bauen „Netflix für Workation“ und bringen die Tech-Szene an die Ostsee

microsoft, drei insulaner bauen „netflix für workation“ und bringen die tech-szene an die ostsee

Kommen alle drei von Rügen (v.l.n.r.): Die Project Bay-Gründer Hannes Trettin, Nico Gramenz und Toni Gurski.

Kommen alle drei von Rügen (v.l.n.r.): Die Project Bay-Gründer Hannes Trettin, Nico Gramenz und Toni Gurski.

Wenn sich Hannes Trettin und Toni Gurski nach salziger Meeresluft und weiten Stränden sehnen, hat das nicht bloß damit zu tun, dass sie urlaubsreif sind. Die beiden sind Insulaner, haben ihre Kindheit zusammen auf Rügen an der Ostsee verbracht. Nach dem Schulabschluss entschieden sie sich trotzdem, die Insel zu verlassen. „Wir haben immer gesagt, dass es irgendwie einen Grund hat, dass wir dort weggegangen sind, weil wir nicht unsere beruflichen Träume leben konnten“, sagt Trettin. „Gleichzeitig haben wir uns vorgenommen, etwas zu schaffen, das die Situation vor Ort verändern kann und jungen Leuten eine Perspektive gibt.“

Den Plan setzten die Gründer aber nicht gleich um. Während es Trettin für sein Wirtschaftsingenieurs-Studium und zum Arbeiten zunächst nach Berlin verschlug, ging Gurski nach Schwerin. Dort baute der IT-Entwickler sein erstes Projekt auf: Kitedrop, eine interaktive Plattform, auf der sich Kitesurfer austauschen und besondere Strände und Spots für den Wassersport auf einer Karte markieren können. Im Jahr 2018 gründeten die Jugendfreunde dann von unterschiedlichen Orten aus ihr erstes gemeinsames Startup Snazz – eine nachhaltige Modeberatung. Die Idee war, Daten aus den sozialen Medien für Modehersteller auszuwerten, um die Produktion überschüssiger Kleidung zu vermeiden und Artikel besser auf Standorte zu verteilen.

Was ihnen noch fehlte, war ein größeres Team: „Wir haben gemerkt, dass wir noch etwas Besonderes brauchen, um Mitarbeiter – gerade Entwickler – zu gewinnen“, erzählt Trettin, der zuvor noch ein Management-Trainee bei Bosch durchlaufen hatte. Gleichzeitig erlebte der Gründer beim Startup-Netzwerk Factory Berlin, von wo aus er seine Firma aufbaute, dass Leute oft neidisch reagierten, wenn sie hörten, dass er von Rügen komme.

Von Mode-Software zu Workation-Startup

„Ich habe das vorher gar nicht so wahrgenommen, dachte dann aber, warum eigentlich das nicht nutzen, um leichter Leute zu akquirieren“, so Trettin. Seine Überlegung: Auf Rügen Co-Working-Spaces mit Übernachtungsmöglichkeit eröffnen. Bei einem Community-Event erwischte er den CEO der Factory Berlin, Nico Gramenz, dem er kurz und knapp seine Idee vorstellte. „Weißt du eigentlich, dass ich auch von Rügen bin?“, soll der ihn nur gefragt haben. Die Sache war für die drei damit so gut wie beschlossen.

Ihr Startup Project Bay, das Trettin und Gurski offiziell 2020 gründeten, und in das Gramenz im Januar 2023 als dritter Co-Founder einstieg, ist heute eine Workation-Plattform. Digital Nomads, die allein oder mit Partner reisen, genauso wie Teams, die vom Unternehmen aus für eine Arbeitssession entsandt werden, können darüber buchen. Die Gründer steigen damit auf einen Trend auf, der über die Pandemie hinweg an Fahrt aufgenommen hat: In einer repräsentativen Studie, die PwC im Jahr 2023 erhoben hat, gaben etwa zwei Drittel der insgesamt 1.000 Befragten an, dass Workation für sie ein wichtiges Job-Kriterium sei. Beliebte Modelle seien etwa, dem kalten Winter in Deutschland zu entfliehen oder auch einen privaten Urlaub zu verlängern.

Gründer planen, 130 Standorte bis 2026 zu eröffnen

Insgesamt 13 Standorte hat das Startup vorzugsweise in ländlichen Regionen mit Badesee oder in Küstennähe bisher eröffnet. Dazu zählen etwa Rostock, Usedom, Sylt, Wismar, Schwerin, Waren an der Müritz und zwei auf Rügen. „Bays“ auf Mallorca, in Kitzbühel und in Bela in der Slowakei sind bisher die Plätze, die das Startup außerhalb von Deutschland bespielt. Insgesamt 32 Standorte seien bislang unterschrieben. In den nächsten drei Jahren wollen die Gründer ihr Angebot auf rund 130 Standorte erweitern. Dafür sammelte das Startup im Sommer 2023 zuletzt eine sechsstellige Summe von Business Angels ein. Die nächste Finanzierungsrunde soll dieses Jahr folgen.

Mit dem Fokus auf deutsche Inseln und grünen Kurorten in Mecklenburg-Vorpommern wollen die Gründer sich bewusst überlaufenen Trend-Regionen wie Bali, Kapstadt, Koh Samui oder Lissabon entgegenstellen. „Workation bei größeren Firmen sieht eher so aus, dass Beschäftigte ihr Ski-Wochenende in Kitzbühel verlängern wollen“, sagt Gramenz. Zudem seien „schöne Ecken in Deutschland“ durch das eingeschränkte Reisen während der Pandemie mehr ins Bewusstsein gerückt, meint Mitgründer Trettin. Dafür spricht auch der Boom bei Camping-Reisen seit 2020. Überhaupt spielten inzwischen viele Nachhaltigkeitsaspekte bei der Wahl des Workation-Ortes mit rein. „Ich sehe da einen krassen Wandel, dass sich Leute inzwischen mehr lokale Orte ansehen, die sich mit der Bahn bereisen lassen“, sagt Trettin.

Hotels stellen Zimmer, Project Bay sorgt für Wlan und Schreibtische

Seiner Ansicht nach sei das Workation-Angebot in Deutschland aber noch begrenzt. Anbieter wie beispielsweise das Hotel-Startup Numa oder Serviced Appartement-Player wie Limehome oder Stayery, die sich mit längerfristig buchbaren Unterkünften ebenfalls gezielt an beruflich Reisende richten, sehen die Gründer von Project Bay nicht als direkte Konkurrenz.

Statt neue Unterkünfte zu bauen, nutzen die Gründer bestehende Hotelkapazitäten. Für die Vermittlung der zusätzlichen Gäste kassieren sie dabei eine Provision: zwischen 18 und 20 Prozent, abhängig von der Saison. Gerade in der Nebensaison, im Winter und Frühjahr, verirren sich in die Hotels an der deutschen Küste nur wenig Gäste. Der Betrieb müsse trotzdem am Laufen gehalten werden, Mitarbeiter würden nicht mehr nur saisonweise beschäftigt. „Die Hotels haben den Strom an, die Leute sind da, aber der Parkplatz ist leer. Wenn wir die beiden Welten zusammenführen und Remote-Arbeitende und Workationer von Unternehmen hier einbinden, würde das einen Riesen-Boost für die Entwicklung dieser Regionen bedeuten“, so Gramenz.

Um eine optimale Arbeitsatmosphäre zu schaffen, in der genügend Schreibtische, bequeme Sitzplätze stabiles Wlan und Datenschutz gegeben sind, wandeln die Gründer vorab zur Verfügung gestellte Räume der Hotels in große Co-Working-Spaces um. Dazu Trettin: „Für die technische Infrastruktur sorgen wir. Wenn es aber um das Übernachtungserlebnis geht, können das andere deutlich besser.“ Zudem würden auch Firmen lieber mit einem Workation-Anbieter zusammenarbeiten als mit mehreren Hotels, so der Gründer.

Lokale Tech-Community soll Abwanderung von Talenten in Regionen entgegenwirken

Dort veranstaltet das Startup auch regelmäßig Community-Events in Absprache mit den jeweiligen Regionen. Denn darum geht es bei ihrem Projekt letztlich auch: Austausch zwischen Einheimischen und Workationern ermöglichen, das schlechte Image des Tourismus aufzuwerten und den wirtschaftlich abgehängten Regionen etwas zurückzugeben: Ein Business-Netzwerk. Parallel dazu haben Trettin, Gurski und Gramenz den Company-Builder Herofounders aufgebaut, der sich speziell an Tech-Gründer aus Mecklenburg-Vorpommern richtet. Dazu Gramenz: „Das darf aber kein theoretisches Netzwerk sein. Du musst erst Gemeinschaftsräume schaffen, um darüber zu reden, wo überhaupt das Problem in den Regionen liegt, und dafür verschiedene Gruppen zusammenbringen.“

Durch die Events solle vermieden werden, dass Workationer nicht mehr als Touristen bleiben: nämlich vor allem unter sich und nach ihrem Aufenthalt wieder verschwunden. „Im besten Fall, so haben wir es zum Beispiel auf Rügen gesehen, sind Gäste von den einzelnen Regionen so begeistert, dass sie sich sogar vorstellen können, dorthin zu ziehen“, erzählt Trettin. „Dann hast du das Maximale für den ländlichen Raum erreicht.“ Umgekehrt, so die Vision des Gründers, entstünde durch das Netzwerk auch eine Art Jobmarkt für Remotework. Unternehmen, die auf der Suche nach jungen Talenten sind, könnten diese über die lokale Initiative finden. Einheimische Young Professionals träfen so wiederum auf Unternehmen, die ihnen sonst vermutlich nicht begegnet wären, und müssten weniger abwandern. „Wenn ich an meine eigene Jugend auf Rügen denke, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass ich dort Leute von Apple, Microsoft oder Siemens kennenlerne“, sagt Trettin.

Project Bay will “Netflix für Workation” werden

Über Project Bay hätten den Gründern zufolge schon häufiger Remote-Arbeiter großer Tech-Firmen wie Apple oder auch VW eine Workation gebucht. In Lietzow auf Rügen checke die Edeka-Gruppe regelmäßig ein. Das seien bisher vor allem Einzelbuchungen gewesen. Darüber hinaus funktionierten Workation-Kontingente für Entwickler kleiner und mittlerer Software- und IT-Firmen gut, „weil sie gegen Google und Co. antreten müssen und Wege suchen, sich zu differenzieren“, sagt Gramenz. Über das Portal können Firmen etwa viertägige Team-Workations oder einmonatige, intensive Bootcamps für die Hochphase von Projekten anfragen.

Langfristig will das Startup eine Art Mitgliedschaft für Business-Kunden etablieren, durch die Teams insgesamt drei Monate lang zum Arbeiten an einem oder alle vier Wochen wechselnden Standorten untergebracht werden. Dass drei Monate insgesamt nicht überschritten werden, hat in der EU arbeitsrechtliche Gründe. Pro Mitarbeiter zahlen Unternehmen für das Paket monatlich rund 2.500 Euro. Neben Hotelzimmern bekommen Teammitglieder Zugang zu Co-Working-Spaces, können an Events und Weiterbildungen am Bay teilnehmen, erhalten zusätzliche Meetingräume und einen sogenannten „Community Manager“ als festen Ansprechpartner vor Ort.

Ein ähnliches Drei-Monats-Paket gibt es auch für selbstständige digitale Nomaden, die allein oder mit Partner reisen. Zu zweit zahlt jeder 875 Euro monatlich, der Einzeltarif beträgt 1.500 Euro im Monat. „Wir wollen ein Netflix für Workation aufbauen“, erklärt Gramenz das Ziel. Und so, wie der Streamingdienst Vorschläge für Filme und Serien macht, die dem Geschmack des Nutzers ähneln, kann sich auch Gramenz vorstellen, dass ihre App Kunden künftig das nächste Workation-Ziel empfiehlt.

Ihre erste Unterkunft in der Gemeinde Lietzow auf Rügen fanden die Gründer zufällig Ende 2019. „Den ersten Lockdown haben wir genutzt, um vor Ort viel zu machen. Als Leute dann wieder reisen durften, hatten wir sofort einen Boom“, sagt Trettin. Im ersten Jahr 2020 habe der Standort gleich Gewinne eingefahren, „obwohl wir wegen Corona nur vier Monate öffnen konnten“, so der Gründer. Im vergangenen Jahr habe Lietzow nach eigenen Angaben einen Umsatz von einer halben Million Euro gemacht, knapp 2.600 Übernachtungen zählten die Gründer dort. Sie sind zuversichtlich, dass es so weitergeht. Vor allem aber hoffen Trettin, Gurski und Gramenz, in ihrer Heimat Rügen ein nachhaltiges, lokales Business-Netzwerk aufzubauen. Damit weniger junge Talente gehen müssen, um in den Städten einen Job zu bekommen. Ihr erstes Startup Snazz gibt es übrigens noch immer. Statt der Analyse-Plattform für die Fashion-Branche baut dieses heute allerdings die Software für Project Bay.

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