Die zentrale Frage, ob Israel nun zum Schlag gegen Irans Atomprogramm ausholt

Der historische Angriff auf Israel hat zugleich die militärischen Stärken und Schwächen des Iran offengelegt. Israel könnte das zum Anlass nehmen, etwas gegen seine strategische Hauptsorge zu unternehmen. Für diese Operation gibt es aber eine entscheidende Bedingung.

die zentrale frage, ob israel nun zum schlag gegen irans atomprogramm ausholt

ZUMAPRESS.com/picture alliance; Montage: Infografik WELT

Die iranische Angriffswelle gegen Israel in der Nacht zu Sonntag war gleich in mehrfacher Hinsicht historisch. Und sie wird Folgen für die Region haben, wie auch immer sich die aktuelle Entwicklung fortsetzt. Eine Zäsur war die Attacke mit mehr als 320 ballistischen Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen schon deshalb, weil es der erste Angriff eines anderen Staates in der Region gegen Israel seit dem Raketenbeschuss des damaligen irakischen Diktators Saddam Hussein im Golfkrieg 1991 war.

Historisch war der Angriff aber auch, weil er in einem einzigartigen Testfall die Stärken und Schwächen des Iran vorgeführt hat. Das Ergebnis dieses Testfalls ist alles andere schmeichelhaft für die iranischen Fähigkeiten. Das wiederum erhöht die Gefahr, dass Israel die Gelegenheit nutzt, um etwas gegen seine strategische Hauptsorge zu tun – gegen Irans Atomprogramm.

„Was die Iraner heute Nacht durchgeführt haben, war wahrscheinlich der größte gleichzeitige Angriff mit Raketen und Marschflugkörpern seit der US-Invasion im Irak im Jahr 2003“, sagt Fabian Hinz vom britischen Thinktank International Institute for Strategic Studies (IISS). „So viel Material kann kaum eine Streitmacht der Welt auf einmal abschießen. Das stellt selbst die Angriffe der Russen auf die Ukraine weit in den Schatten.“ Der Iran- und Raketenexperte schätzt, dass Hunderte, wenn nicht Tausende von iranischen Kräften für die Attacke im Einsatz waren.

Zwar seien die iranischen Drohnen und Marschflugkörper autonom gesteuert und müssten nur von einem kleinen Team koordiniert werden. Aber allein die Betankung einer einzigen iranischen Flüssigtreibstoffrakete erfordere eine Mannschaft von zehn bis fünfzehn Personen und selbst bei feststoffgetriebenen Raketen brauche man zwei bis drei Mann pro Rakete für den Abschuss. Etwa 100 ballistische Raketen schoss der Iran in der Nacht zu Sonntag ab und nach ersten Erkenntnissen waren darunter auch Flüssigtreibstoffraketen. Der Einsatz muss also personalintensiv gewesen sein.

Die Mithilfe der USA bei der Abwehr des Angriffs scheint erheblich gewesen zu sein. Die Amerikaner hätten offenbar etwa die Hälfte der iranischen Drohnen unschädlich gemacht, sagt Hinz – aber nur eine einstellige Zahl der Raketen. „In der Drohnenabwehr waren die Amerikaner stärker. Da gab es offenbar eine Arbeitsteilung.“

Auch Jordanien und Saudi-Arabien haben einige der Geräte unschädlich gemacht. Das dürfte weniger daran liegen, dass die prinzipiell eher westlich orientierten Staaten ihren zuletzt sehr öffentlich vorgetragenen Groll gegen Israel wegen dessen Operation in Gaza begraben hätten, als daran, dass die beiden Länder ihren eigenen Luftraum gegen die eingedrungenen iranischen Systeme verteidigen mussten. Dennoch zeigt die Reaktion der Länder, dass dieser Faktor im maximalen Ernstfall eines Konflikts zwischen Israel und dem Iran die Wucht einer iranischen Attacke weiter hemmen könnte.

„Empfindliche Niederlage für die Abschreckung des Iran“

„Aber möglicherweise war das, was wir heute Nacht gesehen haben, schon das Maximum eines Angriffs, das der Iran leisten kann“, sagt Hinz. Zwar besitzt das Land nach Schätzungen allein 3000 ballistische Raketen und damit das größte Arsenal im Nahen Osten. Aber der Personalaufwand und die Komplexität eines gleichzeitigen Abschusses setzen der Breite eines vergleichbaren Angriffs Grenzen. Sollte die jüngste Attacke tatsächlich das Maximum gewesen sein, dann ist es besonders bemerkenswert, dass offenbar 99 Prozent der Projektile und Drohnen abgewehrt wurden und es außer einem verletzten Mädchen und angeblich begrenzten Zerstörungen an einer Luftwaffenbasis keinerlei Schäden gab. „Die Abschreckung des Iran hat heute Nacht eine empfindliche Niederlage erlitten“, sagt Hinz.

Umso mehr stellt sich jetzt die Frage, wie Israel auf Grundlage dieser Erfahrung seine Antwort kalibriert. Offenbar wirken die USA stark auf die Führung in Jerusalem ein, bei einem Gegenschlag nicht zu weit zu gehen, um eine Ausweitung des Konflikts zu vermeiden. „Eine begrenzte Form der Reaktion wären Schläge gegen Kommandeure der iranischen Revolutionsgarden, wie wir sie in den letzten Monaten gesehen haben, zuletzt beim Luftschlag gegen das iranische Konsulat in Damaskus“, sagt Hinz. Dabei wurde mit General Mohamed Reza Zahedi der Kommandeur der Revolutionsgarden für Syrien und den Libanon getötet.

die zentrale frage, ob israel nun zum schlag gegen irans atomprogramm ausholt

Infografik WELT

„Aber Israel könnte auch noch hochrangigere Generäle im Innern des Iran ins Visier nehmen“, meint Hinz. „Israel hat schon in der Vergangenheit gezeigt, dass es in der Lage ist, Spitzen der Revolutionsgarden auch im eigenen Land zu treffen, etwa beim erfolgreichen Attentat auf den Architekten des Atomprogramms Mohsen Fakhrizadeh 2020. Der war extrem streng bewacht und seine Bewegungen wurden besonders geheim gehalten. Der Chef der Raketentruppen der Garden Amir Ali Hajizadeh tritt dagegen sogar öffentlich im Iran auf.“

Die niedrigste denkbare Eskalationsstufe wären laut Hinz Angriffe auf Produktionsstätten iranischer Drohnen und ballistischer Raketen. „Die iranischen Kommandozentralen, von denen Angriffe wie gestern Nacht gesteuert werden können, sind über das Land verstreut und meist tief unter der Erde geschützt. Die Fabriken für Drohnen und Raketen sind hingegen größtenteils oberirdisch. Sie könnte Israel treffen.“

Für solche Angriffe könnte Israel zum Beispiel seine von den USA gelieferten Tarnkappenflugzeuge vom Typ F-35 einsetzen. Zudem besitzt der jüdische Staat auch U-Boote aus deutscher Produktion, die nach Hinz’ Einschätzung auch Marschflugkörper abschießen könnten, mit denen iranische Ziele getroffen werden können. Dabei muss es nicht bei Raketenfabriken bleiben.

Zeitpunkt für Präventivschlag gegen Atomprogramm aus Sicht Israels günstig

„Die zentrale Frage ist jetzt, ob Israel vor dem Hintergrund der Erfahrung mit den überraschend begrenzten Fähigkeiten des Iran die Gelegenheit nutzt, einen entscheidenden Schlag gegen das iranische Atomprogramm durchzuführen.“ Seit Langem ist bekannt, dass der Iran schon genügend angereichertes Uran angehäuft hat, um damit mehrere Atomsprengköpfe zu bauen. Vermutlich hat das Land schon heute die Fähigkeit, nach wenigen weiteren Anreicherungsschritten einen nuklearen Sprengsatz zu bauen, der zum Beispiel in einem Atomtest eingesetzt werden könnte.

Für die Herstellung einer einsatzfähigen Kernwaffe bräuchte der Iran vermutlich noch weitere Monate bis zu einem Jahr. Weder die von US-Präsident Barack Obama ausgehandelte Nuklearvereinbarung von 2015 noch die Politik des maximalen Drucks seines Nachfolgers Donald Trump konnten den Iran auf seinem Weg zur Bombe bisher aufhalten. Deshalb wird schon lange spekuliert, ob und wenn ja wann Israel militärisch gegen das iranische Atomprogramm vorgehen könnte. Nach dem weitgehend gescheiterten iranischen Großangriff in der Nacht zu Sonntag könnten die Israelis den idealen Zeitpunkt für einen Präventivschlag gegen das Atomprogramm für gekommen halten. Allerdings stünden einer solchen Operation bedeutende Hindernisse entgegen.

Das Atomprogramm ist über mindestens 64 Orte im Iran verteilt und die wichtigsten Einrichtungen befinden sich unterirdisch. Für deren Zerstörung bräuchte Israel mindestens die stärksten konventionellen Bomben im Besitz der USA. Diese hat Washington, soweit bekannt, dem jüdischen Staat noch nicht zur Verfügung gestellt.

Israel hätte auch keine Bomber, die stark genug wären, um die amerikanischen Bomben mit der allerhöchsten Sprengkraft zu transportieren. Auch die nächstkleineren Sprengsysteme, die für einen solchen Einsatz noch geeignet sein könnten, haben ein erhebliches Gewicht – israelische Flugzeuge, die sie transportieren, müssten entweder die kürzestmöglichen Routen über arabische Staaten nehmen, oder unterwegs in der Luft aufgetankt werden. Für ersteres wären – rein völkerrechtlich gesehen – Überflugrechte etwa Saudi-Arabiens notwendig, für letzteres Luftbetankungsflugzeuge der USA.

„Die Priorität der Saudis wird vermutlich auf der innenpolitischen Lage in ihrem Land liegen, und da die öffentliche Meinung nach der hohen Zahl ziviler Toter in Gaza besonders stark antiisraelisch eingestellt ist, würde Riad Israel wohl kaum offiziell Überflüge genehmigen“, sagt Hinz, der neben Persisch auch Arabisch spricht und sowohl im Iran als auch in arabischen Ländern studiert hat. „Das heißt aber nicht, dass sie Israel an einem Angriff hindern würden. Oder dass die Israelis nicht auch gegen ausdrücklichen saudischen Widerstand eine solche Operation durchführen würden.“

Doch ob Israel wirklich so weit geht, gegen das iranische Atomprogramm loszuschlagen, ist unklar. Nach Informationen von WELT haben die USA die Regierung Netanjahu ausdrücklich vor diesem Schritt gewarnt. Er könnte zweierlei zur Folge haben: Iran könnte in diesem Fall tatsächlich das tun, was die Islamische Republik bisher vermieden hat – nämlich nicht nur Vorbereitungen zum Bau einer Kernwaffe treffen, sondern diese tatsächlich bauen. Doch selbst ohnedies könnte die Kleriker-Führung in Teheran eine Maßnahme treffen, die Israel empfindlich schaden könnte, nämlich einen Großangriff der Hisbollah-Miliz im Libanon befehlen.

Deren Raketen und Marschflugkörper sind zwar weniger ausgereift und per se weniger wirksam als jene des Iran. Aber sie sind direkt an der israelischen Grenze stationiert und es handelt sich um ein Arsenal von angeblich über 140.000 Geräten, die zumal wesentlich leichter auf einmal abgefeuert werden können als die komplexen Systeme des Iran.

Westliche Diplomaten sagen, es sei mehr als ungewiss, ob die israelische Luftabwehr dem Anflug mehrerer Tausender Projektile noch gewachsen wäre. In einem solchen Fall müssten die Großrechner des jüdischen Staates Abwägungen treffen. Sie müssten im Zweifel die eigenen Kommandozentralen und Regierungseinrichtungen bevorzugt schützen. Das hieße unter Umständen auch: zivile Tote unter der israelischen Bevölkerung in kaum abzuschätzender Zahl.

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