„Putin muss erleben, dass er mit seiner Strategie nicht weiterkommt“

Berlin. Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz über die Lage in der Ukraine, seine Erwartungen an Bundeskanzler Olaf Scholz und Kritik an Israels Kurs im Gaza-Streifen.

„putin muss erleben, dass er mit seiner strategie nicht weiterkommt“

Christoph Heusgen, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz. (Archiv)

Herr Heusgen, wieviel von der Ukraine in ihren ursprünglichen Grenzen wird nach Ende dieses Krieges noch übrig sein?

Heusgen Völkerrechtlich wird der Ukraine ihr gesamtes Staatsgebiet, einschließlich der Krim, auch nach diesem Krieg weiter gehören. Eine andere Frage ist, ob und welche Teile der Ukraine russische Truppen besetzt halten. Deswegen ist es so wichtig, dass wir, die USA und Europa die ukrainischen Streitkräfte in ihrem Verteidigungskampf mit allem unterstützen, was die Ukraine braucht. Es wäre ein schwerer Fehler, wenn man im Ergebnis einen Teil des ukrainischen Staatsgebietes abtrennen und Russland quasi überlassen würde. Das würde Wladimir Putins Landhunger nur noch größer machen.

Glauben Sie noch an einen gerechten Frieden oder sollte sich die Welt auf einen schmutzigen Frieden einstellen, den Russland auch nach Abschluss eines Abkommens mit der Ukraine immer wieder brechen wird?

Heusgen Irgendwann wird es eine Art Abkommen, vielleicht sogar einen Friedensvertrag zwischen der Ukraine und Russland geben. Wir müssen aus dem Budapester Memorandum von 1994, in dem die Ukraine ihre Atomwaffen aufgegeben hat, und dem Abkommen von Minsk 2015 die Lehre ziehen, dass Putin jegliches Abkommen bricht, wenn es ihm gerade passt. Deswegen braucht die Ukraine dieses Mal nach Ende des Krieges mit Russland handfeste Sicherheitsgarantien, am besten die Mitgliedschaft in der Nato. Dann weiß Putin, mit wem er sich anlegen würde.

Was ist Voraussetzung für Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine? Putin will ja erst das „Regime in Kiew“ beseitigt sehen.

Heusgen Putin muss erleben, dass er mit seiner Strategie nicht weiterkommt. Das wird erst passieren, wenn er sieht, dass er diesen Krieg nicht gewinnen kann. Von seiner Aussage, diesen Krieg nur mit Freiwilligen zu bestreiten, ist Putin schon abgerückt. Er muss immer mehr junge Leute zwangsrekrutieren. Es gibt Unzufriedenheit mit dem Putin-Regime. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Ukraine ebenso am Limit kämpft.

Trauen Sie Putin einen Angriff gegen ein Nato-Land zu, wie derzeit spekuliert wird?

Heusgen Natürlich. Putin hat ja mehrfach gesagt, dass die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts der Zerfall der Sowjetunion war, weil damit viele Russen außerhalb der Grenzen Russlands gestrandet sind. Er will ein Groß-Russland in den Grenzen der ehemaligen Sowjetunion wiederherstellen, ein russisches Weltimperium, in dem er zarengleich herrscht. Sollte Putin den Krieg in der Ukraine nicht verlieren, müssen wir damit rechnen, dass er auch nach der Republik Moldau oder den baltischen Staaten greift.

Dann wäre die Nato im Krieg mit Russland!

Heusgen Ich will nicht darüber spekulieren, was Putin wirklich wagt. Aber wir müssen alles tun, damit die Ukraine jene Waffen und Militärhilfe bekommt, die sie bräuchten, um sich gegen die russischen Aggressoren erfolgreich zu wehren und sie von ihrem Staatsgebiet wieder zu vertreiben. Die Ukrainer verteidigen auch unsere Sicherheit und Freiheit. Deswegen wäre es verheerend, wenn die US-Republikaner das Ukraine-Hilfepaket blockieren würden.

Warum stemmt sich der Bundeskanzler so gegen die Lieferung von Marschflugkörpern des Typs „Taurus“?

Heusgen Das müssen Sie den Bundeskanzler fragen! Ich kann nur sagen, dass „Taurus“ eines von mehreren Waffensystemen ist, mit dem die ukrainischen Streitkräfte die russischen Invasoren empfindlich treffen könnten. Weder aus dem deutschen Außenministerium noch aus dem Verteidigungsministerium höre ich Einwände. Die Befürchtung, die Ukraine könnte „Taurus“ auf Ziele in Russland lenken, ist unbegründet. Die Ukrainer haben sich bislang immer an die Absprachen mit Deutschland gehalten.

Sie wünschen sich von Olaf Scholz eine Erklärung, warum er „Taurus“ nicht liefern will?

Heusgen Das Einzige, was Putin imponiert, ist Stärke. Ich glaube nicht, dass der Bundeskanzler sich erpressen lässt, nach dem Motto: Wenn Berlin „Taurus“ liefert, erhöht das die Kriegsgefahr für Deutschland. Ich finde es richtig, dass Olaf Scholz sich an die Speerspitze der europäischen Bewegung gesetzt hat und die EU-Partner drängt, die Unterstützung für die Ukraine hochzufahren.

Muss Putin nur warten, bis Donald Trump die US-Wahlen gewinnt, dann hat er freie Hand in der Ukraine?

Heusgen Wir sind viel zu voreilig, wenn wir davon ausgehen, dass Donald Trump die US-Präsidentschaftswahl gewinnt. Joe Biden hat eine gute Chance, wieder gewählt zu werden. Trump agiert erratisch, er spricht heute so und erzählt morgen schon wieder eine andere Geschichte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Präsident, der Amerika wieder groß machen möchte, es gut findet, wenn er von Putin vorgeführt wird.

Sind Deutschland und Europa auf eine zweite Amtszeit von Donald Trump ausreichend vorbereitet?

Heusgen Wir müssen einfach unsere Hausaufgaben machen. Zwei Prozent vom Bruttoinlandsprodukt für Verteidigung sind der Maßstab, wenn uns unsere Sicherheit wirklich etwas wert ist. Wir werden daran nicht vorbeikommen. Als Kaninchen vor der Schlange werden wir es nicht schaffen. Ich finde es absolut richtig, dass Verteidigungsminister Boris Pistorius eine Kampfbrigade mit 5000 Soldatinnen und Soldaten dauerhaft in Litauen stationieren will.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat ja angeboten, mit dem nuklearen Abwehrschirm seines Landes auch andere europäische Länder zu schützen.

Heusgen Präsident Macron hat zunächst einmal einen Dialog über die nukleare Abschreckung angeboten, und das Angebot sollten wir annehmen. Wenn Frankreich seinen europäischen Partnern zusätzlich zur Nato einen nuklearen Schutzschirm anbietet, sollte die Bundesregierung zumindest ernsthaft darüber nachdenken. Die Bundesregierung ist es den Bürgerinnen und Bürgern schuldig, alles für ihre Sicherheit zu tun.

Welche Chancen sehen Sie für einen Waffenstillstand oder gar Frieden in Nahost?

Heusgen Ich hoffe sehr darauf, dass Israel das umsetzt, was 150 Staaten in der UN-Generalversammlung gefordert haben: einen Waffenstillstand im Gaza-Streifen. Ich erwarte von UN-Generalsekretär Antonio Guterres bei seiner Auftaktrede bei der Münchner Sicherheitskonferenz, dass er die Welt an die Stärke des Rechts erinnert, das über dem Recht des Stärkeren stehen muss! Wenn nicht, dann werden wir im Dschungel landen. Wir brauchen einen Waffenstillstand so schnell wie möglich.

Und ein Waffenstillstand könnte auch den Geiseln zugutekommen?

Heusgen Es hat bislang keine Geiselbefreiungen durch das Militär gegeben. Ich bezweifle, ob Israel mit seiner bisherigen militärischen Strategie nachhaltig Erfolg im Kampf gegen die Hamas haben wird. Geiseln werden am ehesten freikommen, wenn die Waffen schweigen. Auch im Roten Meer würde wieder Ruhe einkehren.

Welcher Status des Gaza-Streifens ist denn nach dieser Eskalation überhaupt denkbar?

Heusgen Da ist das Völkerrecht eindeutig. Gaza gehört zu einem palästinensischen Staat, der laut UN-Resolution auf seine Gründung wartet. Ich halte es deshalb für inakzeptabel, dass ein Minister der Regierung Netanjahu eine Rückkehr israelischer Siedler in den Gaza-Streifen fordert und die Palästinenser zur „Abwanderung ermutigt“. Am Ende sollte auch Israel ein Interesse haben, die palästinensische Autonomiebehörde zu stärken, bevor der Terror der Hamas weiter um sich greift. Wie es mit dem Gaza-Streifen weitergehen kann, wird sicher auch ein wichtiges Gesprächsthema auf der kommenden Sicherheitskonferenz sein.

Befürchten Sie einen direkten militärischen Konflikt zwischen Iran und USA?

Heusgen Die Angriffe der vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen auf Handelsschiffe im Roten Meer sind dramatisch, doch einen direkten Waffengang zwischen den USA und Iran sehe ich derzeit nicht. Es gibt auf beiden Seiten kein Interesse an einer solchen Eskalation. Aber schon ein dummer Zwischenfall kann einen solchen Konflikt außer Kontrolle geraten lassen.

Sie schauen auf eine über 40-jährige Karriere im Auswärtigen Amt zurück, haben Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel außenpolitisch beraten. Räumen Sie in der Retrospektive Fehleinschätzungen ein, die zur aktuellen Lage beigetragen haben könnten?

Heusgen Jeder Mensch macht Fehler. Auch während meiner Tätigkeit für Angela Merkel wurden Fehler gemacht. Einer davon war, nach dem Minsker Abkommen die Energie-Abhängigkeit Deutschlands von Russland zu vertiefen. Die Gaspipeline Nordstream 2 war ein Fehler.

Haben Sie die Hoffnung, dass die Welt nach dieser Münchner Sicherheitskonferenz ein wenig sicherer sein wird?

Heusgen Die Münchner Sicherheitskonferenz hat sich als Handlungsmaxime dem „Frieden durch Dialog“ verschrieben. Deswegen hoffe ich, dass es auch in diesem Jahr gelingen wird, Parteien und Delegationen zusammenzubringen, die vielleicht seit Monaten nicht mehr direkt miteinander gesprochen haben. Ob auf der Bühne oder im Hinterzimmer ist dann nicht wichtig. Hauptsache, die Welt spricht miteinander.

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