Der ehemalige brasilianische Präsident Jair Bolsonaro im Oktober 2023
„Stunde der Wahrheit“ lautet die Operation der brasilianischen Bundespolizei, die am Donnerstag zu einer Reihe von Hausdurchsuchungen und mehreren Festnahmen geführt hat. Ziele der Operation sind mehrere der engsten Berater und früheren Minister des früheren Präsidenten Jair Bolsonaro, darunter mehrere Reservegeneräle und andere ranghohe Offiziere.
Zu ihnen gehören unter anderem Bolsonaros ehemaliger Vizekandidat und einstiger Verteidigungsminister Walter Braga Netto, der frühere Sicherheitsberater Augusto Heleno, der ehemalige Verteidigungsminister Paulo Nogueira Batista und der ehemalige Justizminister Anderson Torres.
Sie werden laut einer Erklärung der Bundespolizei der Bildung einer kriminellen Organisation beschuldigt, die „noch vor der Wahl“ Behauptungen über einen angeblichen Wahlbetrug verbreitete, um später „eine militärische Intervention zu legitimieren“.
Neben der Verbreitung von Desinformationen soll die Gruppe auch konkrete „Handlungen zur Förderung der Abschaffung des demokratischen Rechtsstaats durch einen Staatsstreich mit Unterstützung von Militärs mit Kenntnissen und Taktiken von Spezialkräften in einem politisch sensiblen Umfeld“ durchgeführt haben, wie die Bundespolizei berichtet, um Bolsonaros Machterhalt nach einer Wahlniederlage zu sichern.
Bolsonaro, gegen den ebenfalls Ermittlungen laufen, wurde dazu aufgefordert, seinen Pass abzugeben. Das Dokument wurde noch am Donnerstag von Beamten der Bundespolizei konfisziert, um Bolsonaros Ausreise zu verhindern. Zwei ehemalige Berater Bolsonaros sowie ein Major der Spezialeinheiten der Armee wurden bereits verhaftet. Gegen etliche weitere Personen wurden Vorsichtsmaßnahmen eingeleitet. Dazu gehören ein Kontaktverbot zu den anderen Personen, gegen die ermittelt wird, ein Verbot der Ausübung öffentlicher Ämter und ein Ausreiseverbot.
Polizisten machen sich am Donnerstag auf den Weg zu Durchsuchungen im Umfeld Bolsonaros.
Die Operation beruht größtenteils auf Informationen und Beweismaterial, die bei den Ermittlungen gegen den früheren Privatsekretär Bolsonaros, den Oberstleutnant Mauri Cid, gesammelt wurden. Zu den Beweisen, die von der Bundespolizei verwendet wurden, um den Antrag auf die Operation zu stützen, zählt eine Reihe von Audio- und Textnachrichten, die Cid an den früheren Befehlshaber der Armee geschickt hatte.
Cid war vier Jahre lang Bolsonaros rechte Hand. Im vergangenen Jahr wurde er verhaftet. Ihm wurde vorgeworfen, Bolsonaro bei der Fälschung von Impfdokumenten geholfen zu haben. Dabei wurde auch das Mobiltelefon von Cid konfisziert, das sich für die Ermittler als wahre Schatzkammer herausstellte.
Pläne für Verhaftung von Verfassungsrichter
Zentral für die Ermittlungen ist auch ein Dokument, das wenige Tage nach dem Sturm radikaler Bolsonaro-Anhänger auf das Regierungsviertel in Brasilia am 8. Januar 2023 während einer Hausdurchsuchung beim früheren Justizminister Bolsonaros sichergestellt wurde. Es handelt sich dabei um den Entwurf eines Dekrets, das die Verhaftung des Verfassungsrichters Alexandre de Moraes, damals Vorsitzender des Obersten Wahlgerichts, sowie die Kontrollübernahme der Armee über das Oberste Wahlgericht vorsieht, um das Wahlergebnis zu annullieren um einen Staatsstreich einzuleiten.
Als Datum für die Ausführung war offenbar der 18. Dezember 2022 vorgesehen, als sich Bolsonaro nach der verlorenen Wahl in den Vereinigten Staaten aufhielt, während Tausende seiner Anhänger sich vor den Militäreinrichtungen des Landes zu Demonstrationen versammelt hatten.
Laut den Ermittlungen soll Bolsonaro im November 2022 den Entwurf des Dekrets erhalten und sich gegen die Verhaftung eines weiteren Richters sowie des Senatsvorsitzenden ausgesprochen haben. Auf Bolsonaros Ersuchen wurde der Entwurf geändert, aber die Verhaftung von Moraes und die Forderung nach Neuwahlen blieben bestehen, heißt es im Gerichtsbeschluss zur Einleitung der Operation, der sich auf polizeiliche Ermittlungen beruft.
Laut dem Verfassungsrichter Alexandre de Moraes, der Berichterstatter des Falles am Obersten Gerichtshof ist, legt das Beweismaterial nahe, dass Bolsonaro das Dekret überarbeitet und sich bereits um die Unterstützung der Armee bemüht hatte, um zu zeigen, dass die Vollstreckungshandlungen für einen Staatsstreich im Gange waren.
Bolsonaro wollte Wahlniederlage nicht akzeptieren
Die von der Bundespolizei analysierten Nachrichten deuteten laut Moraes darauf hin, dass Bolsonaro im November 2022 die Idee aufgegeben hatte, die Wahlniederlage zu akzeptieren, um „die Möglichkeit zu prüfen, den Spieß umzudrehen“, wie es von einigen Militärs, Unternehmern und Mitgliedern seiner Regierung gutgeheißen worden sei.
Danach soll es Verhandlungen mit zivilen Regierungsmitgliedern und den Streitkräften gegeben haben, um Aktionen zu planen und durchzuführen, die darauf abzielten, die Demonstrationen von Bolsonaro-Anhängern gegen das Wahlergebnis aufrecht zu erhalten, zu lenken und zu finanzieren, wie aus den Ermittlungen hervorgeht.
Der frühere Chef des Kommandos für Landoperationen der Armee, General Estevam Theóphilo, soll der Putschidee in einem Gespräch mit Bolsonaro zugestimmt haben. Den Ermittlungen der Bundespolizei zufolge war Theóphilo für den Einsatz der Spezialeinheiten der Armee verantwortlich, die die operative Verantwortung für eine Militärintervention übernommen und auch die Verhaftung von Verfassungsrichter Moraes durchgeführt hätten, falls Bolsonaro das Putsch-Dekret unterzeichnet hätte.
Aus den von der Bundespolizei sichergestellten Nachrichten geht hervor, dass der Vizekandidat und frühere Verteidigungsminister Braga Netto den damaligen Befehlshaber des Heeres als „ein Stück Scheiße“ bezeichnete, weil er sich nicht für den Putschversuch gewinnen ließ. In anderen Gesprächen beschimpfte Braga Netto den damaligen Kommandeur der Luftwaffe aus demselben Grund als „Vaterlandsverräter“.
Die Putschpläne dürften nicht zur Ausführung gekommen sein, weil sie einerseits international keine Unterstützung gefunden hätten. Andererseits fehlte offenbar auch der Rückhalt innerhalb der aktiven Armee, wenngleich immer deutlicher wird, dass viele in der Führungsriege von den Plänen gewusst hatten – und schwiegen.
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