Warum Ägypten den Friedensvertrag mit Israel aufs Spiel setzt
Ägypten schließt sich der Genozid-Klage von Südafrika vor dem Internationalen Strafgerichtshof an – und will bei einem weiteren israelischen Vorrücken auf Rafah sogar den Friedensvertrag aufkündigen. Was treibt die Regierung in Kairo zu solch drastischen Ankündigungen?
Bewohner von Rafah verlassen die Stadt AFP
Nachdem Israel seine Militäroperation in Rafah begonnen und den „Philadelphi-Korridor“ in Gaza an der Grenze zu Ägypten besetzt hat, erhöht Kairo den Druck auf die israelische Regierung – offenbar um ein weiteres Vorrücken auf Rafah zu verhindern. So sagte ein führender Vertreter der ägyptischen Regierung der Nachrichtenagentur AP, sein Land habe formellen Protest gegenüber den USA, europäischen Regierungen und Israel eingelegt und gewarnt, dass der Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten in Gefahr sei.
Gleichzeitig verkündete Kairo, sich der Klage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Strafgerichtshofes anzuschließen, in dem behauptet wird, Israels Ziel sei es, das palästinensische Volk zu zerstören.
Die Frage ist, ob Ägyptens Drohungen vor allem PR-Maßnahmen sind, die Aktionismus vortäuschen sollen, um die eigene Bevölkerung zu besänftigen. Oder steht dahinter eine grundlegende Kursänderung, die tatsächlich die ägyptisch-israelische Entspannungspolitik der vergangenen viereinhalb Jahrzehnte, seit dem Friedensvertrag von 1979, gefährdet?
Ägyptens Entscheidung, sich der Klage Südafrikas anzuschließen, kommt jedenfalls zu einem bemerkenswerten Moment. Einem Zeitpunkt, in dem der gegen Israel vorgebrachte Genozidvorwurf immer stärker in Konflikt mit der Realität gerät. So haben die UN, die bisher für Gaza die Opferzahlen der Hamas kritiklos übernahmen, plötzlich und ohne weitere Erklärung die Zahlen der getöteten Frauen und Kindern im Küstenstreifen dramatisch nach unten korrigiert.
Am 6. Mai hatte das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten(OCHA) die Zahl der getöteten Kinder auf 14.500 beziffert und die getöteter Frauen auf 9500. Zwei Tage später meldete das OHCA plötzlich 7797 getötete Kinder und 4959 getötete Frauen.
In einer Pressekonferenz sagte Farhan Haq, Vizesprecher des UN-Generalsekretärs, „im Nebel des Krieges ist es schwer, Zahlen zu bekommen“. Tatsächlich haben Kritiker seit Langem darauf hingewiesen, dass die UN-Organisationen mit fragwürdigen, von der Hamas behauptete Zahlen agieren. Zumal die Hamas-Zahlen nicht zwischen getöteten Zivilisten und Kombattanten unterschieden.
Und es wurde auch immer wieder kritisiert, dass die UN in Gaza gänzlich andere Methoden anwenden für die Ermittlung von Opferzahlen als bei anderen Konflikten, etwa in der Ukraine. „Es ist absolut wahr, dass der Nebel des Krieges es schwer macht, Opferzahlen korrekt zu schätzen, aber das war der Fall seit Beginn des Krieges“, sagt Salo Aizenberg von der NGO Honest Reporting gegenüber dem „Jewish News Syndicate“. „Es ist empörend, dass die UN sieben Monate gebraucht hat, um die von der Hamas gelieferten Opferzahlen zu hinterfragen.“
OpenStreetMap; Infografik WELT
Die neuen Zahlen scheinen zu belegen, was Militärexperten wie John Spencer, Leiter der Abteilung für urbane Kriegsführung an der Militärakademie West Point, seit Längerem sagen: Dass das Verhältnis von getöteten Zivilisten und getöteten Kämpfern weitaus besser ist in Gaza als in vergleichbaren anderen Konflikten. Und dass Israel, wie Spencer sagt, mehr tut um Zivilisten zu schützen als etwa die USA im Irak oder in Afghanistan getan haben.
Ägypten beteiligt sich also in einem Moment an Südafrikas Genozid-Klage, in dem die Faktenbasis dieser Klage immer mehr in Zweifel gezogen wird. Die südafrikanische Klage hat unter anderem das Ziel, eine Verfügung zu erwirken, mit der Israels Militäroperation in Rafah gestoppt werden soll.
Die Kläger argumentieren, die Menschen in Rafah könnten nirgendwohin fliehen, weil der Rest Gazas zerstört ist. Das ist aber tatsächlich nicht wahr, und dürfte auch der Hintergrund sein, warum Kairo sich an der Klage beteiligt: Die Menschen in Rafah könnten sich durchaus einfach in Sicherheit bringen – nämlich direkt über die Grenze nach Ägypten. Und genau das will Kairo verhindern.
Tatsächlich muss sich Ägypten vorwerfen lassen, zumindest als sekundärer Faktor mitverantwortlich zu sein für die prekäre humanitäre Lage in Gaza. Schließlich weigert sich die Sisi-Regierung seit Kriegsbeginn trotz internationalen Drucks standhaft, Flüchtlinge aus Gaza in den ägyptischen Sinai ausreisen zu lassen, selbst auf temporärer Basis.
Ägypten ließ den Waffenschmuggel lange zu
„Anstatt Waffenlieferungen nach Israel zu stoppen, hätte die Biden-Regierung die jährliche US-Finanzhilfe an Ägypten als Hebel einsetzen können, um Präsident Fatah al-Sisi zu zwingen, Flüchtlinge aus Gaza aufzunehmen“, schreiben Mark Dubowitz und Ben Cohen von der Foundation for Defense of Democracies. Zumal Ägypten mitverantwortlich sei für die Masse von Waffen, die Hamas über die Jahre angehäuft hat, die oft über Tunnel aus Ägypten geschmuggelt wurden.
Wie ernst muss man die Drohung Ägyptens also nehmen, den Friedensvertrag zwischen beiden Seiten auszusetzen? Das „Wall Street Journal“ hatte schon im Februar unter Bezug auf ägyptische Offizielle berichtet, dass der Vertrag suspendiert werden könnte, wenn die IDF in Rafah einfällt, und wenn Flüchtlinge in Richtung Süden und auf die ägyptische Sinaihalbinsel verdrängt werden.
Diese Verknüpfung mit einer potenziellen Flüchtlingsbewegung Richtung Ägypten dürfte den Kern der ägyptischen Bedenken darstellen und erklären, warum Ägypten nun so viel politischen Druck aufbaut, nachdem Israel mit der Besetzung des „Philadelphi-Korridors“ an der ägyptischen Grenze den ersten Schritt einer Operation gegen Rafah getan hat.
Schließlich liegt Rafah direkt an der ägyptischen Grenze und Kampfhandlungen dort könnten zu einer Massenflucht in Richtung Ägypten führen. Zudem will Kairo möglicherweise auch den Ansehensverlust verhindern, der entstehen würde, wenn Israel in Rafah das ganze Ausmaß von Schmuggeltunneln offenlegen sollte, die Ägypten und Gaza verbinden.
Ägypten hat Angst davor, Massen von Flüchtlingen aus Gaza aufzunehmen, die seit fast zwei Jahrzehnten von der Hamas-Regierung islamistisch indoktriniert wurden. Schließlich kämpft Ägypten im Sinai seit mehr als einem Jahrzehnt intensiv gegen islamistische Terrorgruppen und Sisi ist ein erklärter Gegner der ägyptischen Muslimbrüder, aus denen die Hamas einst hervorgegangen ist.
Kairo sollte Flüchtlinge ins Land lassen
Eine Aufkündigung des Vertrags ist jedoch nicht im ägyptischen Interesse, zumal Kairo selbst daran interessiert ist, dass die Islamisten in Gaza ihre Macht verlieren. Für Ägypten steht die Verhinderung von Flüchtlingsströmen nach Süden im Vordergrund und nicht etwa humanitäre Fragen. Denn wenn Ägypten tatsächlich interessiert wäre, weitere humanitäre Krisen zu verhindern, dann müsste es palästinensische Flüchtlinge ins Land lassen, anstatt sie auszusperren.
In gewisser Weise trifft sich die Position der Ägypter in dieser Frage aber mit derjenigen der US-Regierung. Die verlangt seit vielen Wochen, dass die Regierung von Premier Benjamin Netanjahu ein humanitäres Konzept vorlegt für die Evakuierung von Zivilisten in andere Teile des Streifens, viele davon Binnenflüchtlinge.
Was den Friedensvertrag mit Israel anbelangt, schien Ägyptens Außenminister Sameh Schukri die Lage am Wochenende jedoch ein wenig beruhigen zu wollen. „Das Friedensabkommen mit Israel war 40 Jahre lang Ägyptens strategische Wahl und es stellt den wichtigsten Pfeiler für Frieden und Stabilität in der Region dar“, sagte Schukri. Und es gebe Mechanismen, um über Verstöße gegen den Vertrag zu urteilen.