Landesverrat, Bestechung, laufende Gerichtsverfahren: Bringen die aktuellen Ereignisse die AfD in Bedrängnis? Der Demoskop Matthias Jung glaubt nicht daran. Welche Chancen die Partei im Superwahljahr hat und wen die AfD fürchten sollte, erklärt der Chef der Forschungsgruppe Wahlen im Interview.
Aufwärts geht es gerade nicht für die AfD – in Umfragen verliert sie seit Januar stetig Prozentpunkte und liegt aktuell bei 17 Prozent in der Sonntagsfrage.
Herr Jung, Spionage- und Korruptionsvorwürfe erschüttern derzeit die AfD. Wird das der Partei jetzt zum Verhängnis? Wie stehen ihre Chancen noch für die Europawahl?
Jung Man muss sich davor hüten zu glauben, da gibt es Negativschlagzeilen und jetzt bricht die Zustimmung für die AfD ein – das ist illusionär. Bei so stark populistisch-ideologisch geprägten und auch rechtsextremen Parteien ist das so eine Sache mit Skandalen. Ihre Wählerschaft ist sehr heterogen, aber man kann sagen, dass es einen Teil gibt, der immun ist gegen negative Informationen – selbst wenn es um Bestechung oder Spionage wie jetzt bei der AfD geht.
Was heißt das?
Jung In der Psychologie spricht man von kognitiver Dissonanz. Menschen ändern ihre Einstellungen und Erinnerungen so ab, dass sie keine Widersprüche mehr aushalten müssen. Es gibt die, die tatsächlich glauben, dass es eine von den etablierten Parteien befeuerte Kampagne ist, die jetzt gezielt vor der Europawahl inszeniert wird. Dann gibt es die, die die AfD so oder so aus purem Trotz wählen. Und dann gibt es die Wähler mit einem geschlossen rechtsextremen Weltbild, die das alles gar nicht stört, die die Nähe zu autoritären Systemen völlig unproblematisch finden.
In der Sonntagsfrage geht es für die AfD seit Jahresbeginn stetig bergab, ihre Zustimmung ist von 22 Prozent auf inzwischen 17 Prozent gesunken. Ist der Höhepunkt überschritten?
Jung Solche Prognosen sind letztlich immer spekulativ, und es ist auch nicht belegbar, dass die Anti-AfD-Proteste damit zusammenhängen. Aber es gibt gerade einige Faktoren, die den Erfolg der AfD dämpfen. Neben den ganz aktuellen Vorfällen spielt vor allem das Aufkommen vom Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) eine entscheidende Rolle. Zu keiner anderen Partei hat das BSW eine größere inhaltliche Nähe als zur AfD, nicht einmal mit den Linken ist die Überschneidung so groß. Gerade im Osten hat das BSW große Chancen, vom großen Protestwählerlager zu profitieren.
Um welche Wählergruppe konkurrieren die beiden Parteien?
Jung Dort gibt es viele Menschen, die weder explizit rechts noch explizit links sind, die aber ihren Protest zum Ausdruck bringen wollen und zum Teil auch richtig auf Krawall gebürstet sind. Im Grunde die gleiche Wählergruppe, die die AfD von den Linken seit den Landtagswahlen 2014 abgegriffen hatte.
Hat das neue BSW mit Sahra Wagenknecht nicht die bessere Identifikationsfigur?
Jung Um das Personal an der Parteispitze und ob das seriöser oder vertrauenswürdiger ist, geht es gar nicht so sehr. Protestwähler identifizieren sich teilweise auch gar nicht mit der Partei oder deren Inhalten. Es geht ihnen nur darum, „den anderen“ eins auswischen zu können, deshalb geben sie ihre Stimme immer gerade der Partei, die am meisten Protestwirkung verspricht.
Gilt das für die Europawahl in gleichem Maße wie für die Landtagswahlen im Osten im Herbst?
Jung Grundsätzlich sogar noch stärker, denn die Europawahl ist den meisten Menschen in der Rangfolge nach der Bundestagswahl und den Landtags- und Kommunalwahlen am unwichtigsten. Hier ist die Bereitschaft zu experimentieren am größten. Anstatt die Stimme ernsthaft inhaltlich zu vergeben, wird die Europawahl gerne als Protestwahl genutzt – oder dafür, gleich ganz fernzubleiben.
Bedeutet das auch: Je geringer die Wahlbeteiligung, desto erfolgreicher die AfD bei der Europawahl?
Jung Jein. Dadurch, dass die AfD als Protestpartei inzwischen etabliert ist und nicht neu, ist kein besonderer punktueller Effekt zur Europawahl zu erwarten.
Sie rechnen also, so jedenfalls das aktuelle Umfrageergebnis, mit rund 15 Prozent für die AfD?
Jung Das ist schwer genauer vorauszusagen. Die Wahl ist für die meisten Bürgerinnen und Bürger noch relativ weit weg, ihre Entscheidung hängt auch oft nicht von den Inhalten der Europa-Programme ab. Hier hat die AfD auch eher Schwierigkeiten, mit ihren Themen zu mobilisieren und es wird angesichts der Skandale um die beiden Spitzenkandidaten noch schwieriger. Nutzen würde ihr höchstens ein schwerwiegendes Ereignis, das in ihr Kernthema Migration fällt, damit könnten sie sicher weitere Wähler im Europawahlkampf mobilisieren.
Welche Partei würde aktuell am meisten profitieren am 9. Juni?
Jung Traditionell sind die Wählergruppen der Grünen deutlich besser mobilisierbar, weil ihre Themen globaler, die Inhalte stärker an der Europapolitik angelehnt sind. Bei der Europawahl schneiden die Grünen deshalb oft besser ab als bei einer gleichzeitigen Bundestagswahlabsicht.
Der Slogan der AfD lautet „Europa neu denken“, sie fordert ein „Europa der Vaterländer“. Müssten die jüngsten Spionage-Vorwürfe der Partei als Vaterlandsverrat nicht zum Verhängnis werden?
Jung Wenn das bei ihren Wählern so ankäme, ja. Wenn die sich überhaupt damit beschäftigen. Inhalte auf Ebene der Europapolitik spielen bei den meisten keine größere Rolle. Hinter ihr vereinen sich generelle EU-Gegner, weil sie in Deutschland die einzige nicht-proeuropäische Partei ist.
Kann die AfD sich eigentlich alles erlauben? Gibt es kein Tabu?
Jung Wenn wir in die USA schauen, sehen wir ja, wie wenig die Stammwählerschaft der Republikaner auf Donald Trumps moralisches und juristisches Fehlverhalten reagiert. Und das, obwohl Vergehen wie Betrug, Korruption oder sexueller Missbrauch dem Wertverständnis seiner oft evangelikalen Anhänger extrem entgegenstehen müsste. In Deutschland ist die Lage nicht so zugespitzt, aber es ist der gleiche Mechanismus.
Gibt es in der Wahrnehmung der AfD-Wähler denn keine Abstufung, egal ob Gerichtsverfahren gegen Björn Höcke wegen einer umstrittenen Aussage – oder Vorwürfe wegen Landesverrats?
Jung Ein Teil der AfD-Wähler betrachtet all das als Verschwörungskampagne, und man muss bedenken, dass sich der Teil der Menschen in einem geschlossenen Informationsnetzwerk alternativer Medien aufhält. Das gilt insbesondere für viele AfD-Anhänger im Osten, die eindeutig hinter ihrer Partei stehen. In Sachsen, Brandenburg und Thüringen hat die AfD schon bei den Landtagswahlen 2014 zweistellige Ergebnisse eingefahren und ist in die Parlamente eingezogen – das war noch vor der Flüchtlingskrise.
Sie wird im Herbst dort also höchstens das BSW fürchten müssen?
Jung Schon auch noch die Linke. Diese drei Parteien können das dortige Protestpotenzial binden, jenseits davon wird es für die etablierten Parteien schwierig, Stimmen zu gewinnen.
Wird der große Kuchen der Stimmen bei Wahlen also in immer kleinere Stücke und durch mehr Parteien geteilt?
Jung Wir haben aktuell schon einen Trend, dass sich an den Rändern immer mehr Parteien etablieren können. Das liegt an der immer vielfältigeren Gesellschaft, den fehlenden langfristigen Bindekräften wie zum Beispiel die Kirchenzugehörigkeit. Menschen stimmen immer häufiger gerade für das, was ihnen in dem Moment wichtig erscheint. Davon profitieren Parteien mit speziellen Zuschnitten. Es kann aber genauso sein, dass bei der nächsten Bundestagswahl FDP, Linke und BSW an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern und wieder weniger Parteien im Parlament vertreten sind. Das kann man heute nicht sagen.
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