Ein Tiktok-Verbot verschleierte die wirklichen Probleme.

ein tiktok-verbot verschleierte die wirklichen probleme.

Tiktok-Star Mona Swain und ihre Schwester Rachel bei einer Protestaktion gegen ein Verbot der App im März vor dem Kapitol

So viel parteiübergreifende Einigkeit wie in der vergangenen Woche gab es im amerikanischen Parlament lange nicht mehr. Mit großer Mehrheit stimmte es nicht nur für Milliardenhilfen für die Ukraine, Israel und Taiwan, sondern auch für ein Gesetz mit dem breitbeinigen Namen „21st Century Peace through Strength Act“. Für Michael McCaul, den republikanischen Abgeordneten aus Texas, der es ins Repräsentantenhaus einbrachte, hat es diesen durchaus verdient. Sein Land, sagte er in seiner Rede, stehe heute an einem ähnlichen Scheidepunkt wie 1939 vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Die Volksvertreter müssten sich deshalb entscheiden: „Sind Sie Churchill oder Chamberlain?“

Das Gesetzespaket bündelt eine Reihe von Maßnahmen gegen die außenpolitischen Feinde der USA. Unter anderem erlaubt es, eingefrorenes russisches Vermögen für den Wiederaufbau der Ukraine zu vergeben, und verschärft die Sanktionen gegen iranisches Öl. Außerdem erklärt es die Fentanyl-Krise zum nationalen Notstand und weitet die Kompetenzen der Regierung im Kampf gegen den Handel mit dem synthetischen Opioid aus, sowohl gegen mexikanische Kartelle als auch gegen Rohstofflieferanten aus China. Und nicht zuletzt verbietet das Gesetz den Betrieb oder die Verbreitung von Apps, die „von einem ausländischen Gegner kontrolliert“ werden.

Ein trügerischer Konsens

Als „ausländische Gegner“ sind Russland, Nordkorea, der Iran und China definiert, aber konkret zielt das Gesetz nur auf Tiktok ab, auf jene App also, die in Reihen der Republikaner mittlerweile gerne als „digitales Fentanyl“ bezeichnet wird, als Droge aus China, die die Köpfe der amerikanischen Jugend vernebelt. Nun also muss Tiktok spätestens innerhalb eines Jahres an ein amerikanisches Unternehmen veräußert werden, sonst wird die App aus den App-Stores gelöscht.

Der große Konsens im Parlament täuscht darüber hinweg, wie umstritten ein Tiktok-Verbot auf allen möglichen Ebenen ist. Im konservativen Lager stehen sich Verfechter einer unantastbaren Markt- und Meinungsfreiheit und anti-chinesische Protektionisten gegenüber, bei den Demokraten jene, die die außenpolitische Stimmung nutzen wollen, endlich die Laissez-faire-Politik gegen die sozialen Medien zu beenden, und jene, die dafür nicht riskieren wollen, fremdenfeindliche Ressentiments zu schüren. Lange überwog die Skepsis gegen ein Verbot, auch weil äußerst zweifelhaft ist, ob es verfassungskonform beziehungsweise überhaupt wirksam wäre.

Noch immer gibt es ein paar prominente Gegner, etwa Meinungsfreiheits-Ultra Elon Musk oder Donald Trump, einst lärmender Befürworter eines Verbots, der seine Position nach einem Treffen mit dem Tiktok-Investor Jeff Yass, einem Großsponsor der Republikaner, komplett änderte. Aber bei vielen Politikern kippte die Stimmung nach dem 7. Oktober 2023, weil die App vor allem im konservativen Lager als entscheidender Grund dafür gilt, dass antisemitische Parolen in der amerikanischen Jugend immer populärer werden. Für Aufsehen sorgte vor ein paar Monaten etwa der Hype um einen 21 Jahre alten Brief von Osama Bin Laden, in dem der spätere Al-Qaida-Anführer den islamistischen Terrorismus verklärt und antisemitische Verschwörungsmythen verbreitet, denen offenbar Millionen von Teenagern zustimmten.

Wie groß der Einfluss propalästinensischer Videos und Influencer auf die Meinungsbildung der 170 Millionen amerikanischen Nutzer der App tatsächlich ist, lässt sich schwer messen.

Schon im vergangenen November widersprach Tiktok dem Eindruck einer propalästinensischen Schlagseite und führte an, in den drei Wochen nach dem 7. Oktober habe der Hashtag #standwithisrael 46 Millionen Views sammeln können, eineinhalbmal so viel wie der Hashtag #standwithpalestine (29 Millionen). Allerdings wies Tiktok selbst in einer späteren Pressemitteilung darauf hin, dass der Vergleich einzelner Hashtags nur ein verzerrtes Bild liefere. Und verschwieg gleichzeitig, dass sich die Solidarität mit Palästina vor allem unter dem Hashtag #freepalestine versammelt. Im Dezember, so ermittelte die unabhängige jüdische US-Website „Forward“, wurden in den USA 214.000 Videos mit diesem Slogan gepostet, die insgesamt 525 Millionen Mal angesehen wurden. #standwith­israel, der populärste proisraelische Hashtag, kam im gleichen Zeitraum auf 3000 Videos und 17 Millionen Views.

Lässt sich Antisemitismus ausschalten?

Angesichts dieser Zahlen ist es verständlich, dass viele Tiktok für die Verbreitung von Judenhass verantwortlich machen. „Das, was bei Tiktok passiert, bringt die größte antisemitische Bewegung seit den Nazis hervor“, warf etwa der britische Komiker Sacha Baron Cohen den Managern der Plattform vor – wobei er ähnlich drastische Kritik früher auch schon an anderen Social-Media-Diensten geübt hatte.

Doch selbst wenn man die Schieflage der politischen Äußerungen inmitten all der viralen Tanztutorials und grotesk gefährlichen Challenges zugesteht, ist die Frage, ob sich der Hass wirklich verhindern ließe, indem das Unternehmen, wie Cohen nahelegte, einfach „den Schalter umlegt“. Tiktok sei nicht die Ursache für die Sympathien für Palästina, sagt das Unternehmen, sondern nur der Ort, an dem die Haltungen der Jugend ihren Ausdruck finden. Schon gar nicht fördere das Unternehmen aktiv israelfeindliche Propaganda. Und bringt Zahlen ins Spiel, die nicht so leicht zurückzuweisen sind. Schon seit Jahren nehme die Unterstützung für Israel bei Menschen unter 40 Jahren ab und der Antisemitismus zu – noch krasser bei den Konkurrenten. Bei Facebook beispielsweise stünden elf Millionen Beiträge mit der Kennzeichnung „#freepalestine“ 278.000 gegenüber, die sich für „#standwithisrael“ aussprechen.

Die spekulative Natur der Kritik ist nicht nur in der Debatte um potentielle politische Manipulationen ein Problem, auch andere Argumente sind dünn. Dass Tiktok Daten an die chinesische Regierung weiterleitet, mag man als Gefahr für die nationale Sicherheit sehen, für amerikanische Plattformen ist der Handel damit längst ein Geschäftsmodell. Umgekehrt ist die Frage, wie groß der Einfluss sozialer Medien auf die öffentliche Meinung ist, außerordentlich komplex. Wenn man aber glaubt, dass Desinformationskampagnen die Ursache für den Siegeszug von Populisten wie Trump seien und nicht nur deren Hilfsmittel, dann würde es auch nicht viel helfen, wenn sich die Instrumente im Besitz von Pa­trioten befänden.

Die russische Kampagne gegen Hillary Clinton lief jedenfalls auch in amerikanischen Netzwerken ganz gut. Dass Steven Mnuchin, ehemaliger Finanzminister unter Trump, schon mal sein Interesse an einem Kauf von Tiktok angemeldet hat, dürfte jedenfalls nicht alle Unterstützer des Verbots beruhigen. Zudem steht nicht einmal sicher fest, dass das Verbot überhaupt auf Bytedance zutrifft. Das Unternehmen ist zu 60 Prozent im Besitz westlicher Investoren. Zwar liegt die Zentrale der Firma in Peking, der offizielle Sitz aber auf den Cayman-Inseln.

Verbot als Alibi

Der gravierendste Einwand gegen ein Verbot von Tiktok aber kommt von den Kritikern der großen Plattformen – von Leuten, die schon seit Jahren auf die unkontrollierte Macht der Tech-Konzerne hinweisen, auf die Intransparenz der Algorithmen und die juristische Unantastbarkeit. So wenig Sympathien sie für Tiktok haben, so kontraproduktiv ist für sie ein Verbot.

Es sei eher ein Zeichen einer härteren Haltung gegenüber China, nicht gegenüber den sozialen Medien. Zwar habe man das Problem erkannt, „dass wir viele Informationen in den sozialen Medien teilen“, sagte der britische Journalist Chris Stokel-Walker, Autor eines der kenntnisreichsten Bücher über die chinesische App, kürzlich in einem „New Yorker“-Podcast, „aber wir haben es fälschlicherweise als China diagnostiziert“. Am Ende, fürchtet er, profitieren vom Tiktok-Verbot allein dessen Konkurrenten. Wenn es überhaupt in Kraft tritt: Tiktok hat bereits angekündigt, gegen das Gesetz zu klagen, und beruft sich dabei auf den mächtigen ersten Zusatzartikel zur Verfassung, das Recht auf Redefreiheit, das eben auch das Recht beinhaltet, kommunistische Propaganda lesen zu dürfen.

Ein solcher Prozess wäre langwierig und wegweisend – und vielleicht am Ende doch eine Chance, eine grundsätzliche Debatte über die notwendige Regulierung der großen Plattformen zu beginnen, über die Zerschlagung der Quasimonopole. Über den Einfluss der Algorithmen auf sämtliche Lebensbereiche, auf Wahlen, Kaufentscheidungen oder Gemütszustände der Nutzer. Und über den problematischen Paragraphen 230 des Communications Decency Act, jenes fatalen Gesetzes, das die Provider seit 1996 aus jeder Verantwortung für ihre Inhalte entlässt. Maßnahmen aber, die sich nur gegen Tiktok richten, sind nicht mehr als ein Alibi, das die strukturelle Kritik zum Verstummen bringt.

Die 170 Millionen demnächst heimatlosen Nutzer werden dadurch auch nicht zu Zeitungslesern, geschweige denn zu Zionisten. Im Gegenteil: Die Organisation Anti-Defamation League (ADL) fürchtet, dass antisemitische Stimmen, die eine jüdische oder zionistische Verschwörung hinter dem Gesetz wähnen, nun noch lauter werden. Dabei hat ADL- Direktor Jonathan Greenblatt in der Vergangenheit zwar die Plattformen immer wieder zu einer besseren Moderation der Hasskommentare ermahnt, nicht nur Tiktok, aber nie ein Verbot gefordert. Am Ende trifft der Vergleich mit den synthetischen Drogen womöglich einen Punkt: Wer das Problem lösen will, sollte nicht nur das Angebot bekämpfen, sondern auch die Nachfrage.

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