FDP-Parteitag: Für Lindner geht es ums Überleben

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„Den Sinn sehen. Dann kann man alles durchstehen“: Lindner am 17. April bei der Frühjahrstagung des Internationalen Währungsfonds in Washington

Die besten Interviews mit Christian Lindner sind jene, in denen er die Fragen stellt. Nicht sich selbst, obwohl das auch interessant wäre, sondern den Gästen seines Podcasts „CL+“. Neulich zum Beispiel hatte er einen Survival-Experten im Studio, einen Ex-Fallschirmjäger, der heute Videos seiner Überlebenstrips produziert. Schon nach kurzer Zeit klang das Gespräch so, als würde es nachts am Lagerfeuer geführt. Eine von Lindners ersten Fragen war: „Hast du so’n paar Tipps – ich frage für ’nen Freund –, wenn’s ums Überleben geht?“ Dazu lachte er, als denke er an mehr, als er aussprach.

Christian Lindner hat wahrscheinlich schon viel übers Überleben nachgedacht. Erstens, weil die FDP wieder einmal um ihr politisches Überleben kämpft. Zweitens, weil er sie unangefochten führt.

Viele staunen. Normalerweise stürzen Parteien ihre Vorsitzenden, wenn Krisen andauern. So hat es auch die FDP früher gemacht. Als Lindner ins Amt kam, übernahm er die zerstrittenste Partei Deutschlands. Nun löst er in wenigen Tagen Hans-Dietrich Genscher als Rekordvorsitzenden ab. Beim Parteitag an diesem Wochenende könnte man ihm dafür eine goldene Ehrennadel oder einen gelben Pullunder überreichen. Die FDP tagt in einem alten Postbahnhof am Rande von Kreuzberg, seit sie vor elf Jahren aus dem Bundestag flog. Damals konnte sie sich hochglänzende Kongresszentren nicht mehr leisten. Heute könnte sie, ist aber geblieben. Umso heller glänzt Lindner.

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Immer am Arbeiten: Lindner Mitte April auf dem Flug nach Washington

Dabei ist die FDP nicht glücklich. Im Gegenteil. Es quält sie jede Umfrage, die den gelben Balken als Stummel zeigt. Jede verlorene Landtagswahl, jeder hämische Online-Kommentar sticht wie ein weiterer Dorn, den sie sich in den bloßen Fuß tritt, auf einem langen Weg. Nur identifiziert die Partei Lindner immer noch als denjenigen, der vorangehen soll. 2013, in der düstersten Stunde der Liberalen, hatte Lindner den bevorstehenden Kampf zurück ins Parlament beschrieben als „Besteigung des Mount Everest barfuß und ohne Sauerstoff“. Das ist gelungen. Auch wer die Leistung nicht zur Heldentat erklären will, kann anerkennen, dass sie groß war.

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Ankunft in Istanbul: Lindner am 22. April

„Warnschuss der Basis gehört“

Seither ist viel passiert. Und jetzt empfinden viele Liberale den Weg wieder als ähnlich steil. Manche dachten Anfang des Jahres, Lindner könnte stolpern. Da hatte eine Mitgliederbefragung ergeben, dass nur eine knappe Mehrheit in der FDP es richtig fand, in der Regierung zu bleiben. Lindner betonte: eine Mehrheit. Alle sahen: gerade so. Doch in der Bundestagsfraktion blieb es ruhig, auch in den Führungsgremien probte niemand den Aufstand. Da fand man: Eine FDP, die wegen SPD und Grünen hinschmisse, wäre nach der nächsten Wahl leichte Beute für CDU und CSU. Wo sollte sie auch sonst hin? Die Union könnte den Preis drücken, bis von den eigensinnigen Liberalen nur noch ein Häufchen Jasager übrig wäre. Oder ein Häufchen Neinsager in der Opposition. Ein Abgeordneter, der sonst kein Blatt vor den Mund nimmt, sagt mild, Lindner habe „den Warnschuss der Basis gehört“. Jetzt rücke man zusammen, im Kampf für die Wirtschaftswende.

Und so bleibt das Grundproblem: Die FDP ist in einer Koalition von drei Partnern der kleinste, aber der mit einer herausfordernd fordernden Anhängerschaft. Das passt schlecht zusammen. Die Wähler der Liberalen wollen den Ton angeben, nicht die dritte Geige spielen. Da kann die Parteiführung wenig machen. Je lauter sie wird, desto eher fällt auf, wenn die anderen im Trio ihr nicht folgen. Aber leise sein bringt auch nichts.

Also geht Lindner mit allem, was er tut und lässt, hohe Risiken ein. Das kostet Kraft. FDP-Abgeordnete berichten, dass er nach Landtagswahlen miese Laune habe und besonders angespannt sei, wenn der Streit mit SPD und Grünen mal wieder aufflamme. Zuletzt ging Lindner im Koalitionsausschuss den Kanzler hart an, weil der die Lage der Wirtschaft öffentlich schönrede. Auf Journalistenfragen reagierte er manchmal gereizt – die habe er doch schon oft beantwortet. Allerdings sagen Politiker selbst ungefragt fortwährend Sätze, die sie schon oft gesagt haben. So ist das Geschäft.

Im vergangenen Winter scherzten Mitarbeiter von Lindner, er könne bald Werbung machen für Aspirin Complex, so oft nehme er das Mittel ein. Der ernste Kern: Lindner war mehrfach eigentlich zu krank zum Arbeiten und arbeitete trotzdem. Am Vorabend des Dreikönigstreffens in Stuttgart zweifelte er, fiebrig bleich, daran, am nächsten Tag auftreten zu können. Und trat auf. So wie auch in der Vorweihnachtszeit, als er nach einer mit Olaf Scholz und Robert Habeck durchverhandelten Nacht tags weiterarbeitete, bevor er abends die FDP-nahe Naumann-Stiftung besuchte, ohne Sprechzettel die Festrede hielt und in den Wagen zur nächsten Fernsehschalte sprang, noch bevor die anderen sich auf die Häppchen stürzten.

Lindner pendelt zwischen Genscherhaus und Finanzministerium, Bundestag und Übersee. Soll er in Princeton eine Grundsatzrede halten, schreibt er sie in den zwei Nächten zuvor und feilt noch im Auto von Washington zum Ziel an letzten Details. Sitzt er im Zug nach Kiew, beantwortet er mitreisenden Journalisten noch kurz vor Mitternacht Detailfragen zu Industriestrompreis, Generationenkapital und seiner Meinung zum Personal der CDU. Zagt die Bundestagsfraktion, baut Lindner sie auf wie ein Coach in der Halbzeitpause, dass die Abgeordneten noch Tage später schwärmen.

Ein FDP-Abgeordneter sagt, Lindner laufe seit Jahren einen Marathon im Tempo eines Sprinters. Das stresse. Aber worauf der Abgeordnete hinauswill, ist nicht, dass Lindner schlappmachen könnte. Sondern dass er mehr Stehvermögen beweise, als es andere in seiner Lage täten.

„Aus der Ernüchterung darf nicht Frustration folgen“

In seinem Podcast kam Lindner selbst auf das Thema zu sprechen, als er den Survival-Mann zu Gast hatte. Er beschrieb ziemlich ungeschminkt, was seine Arbeit im Ministerium mühsam mache. Es klang wie Ferrari fahren in einer Welt aus Dreißigerzonen. „Ich bin ja viele Jahre Abgeordneter und habe gedacht, ich werde dann mal Minister, und jetzt sitzt du an allen Hebeln, ziehst nur dran, und alles ändert sich. Oh nein . . .“ Lindners Stimme wird nicht bitter, aber doch sarkastisch: „Oooh nein.“ Er habe nicht nur „sehr kluge Beamtinnen und Beamte, die das Jahrzehnte machen und deshalb“ – hier spricht Lindner jedes Wort spöttisch pedantisch – „ganz – genau – wissen“, dass das 1997 schon mal geprüft worden sei. Dann heiße es: „Vergessen Sie’s, Herr Minister. Oder: Das ist ’ne gute Idee, aber das europäische Recht erlaubt das nicht. Oder: Sehr gute Idee, aber die Länder, die werden ja nie zustimmen. Und so weiter, und so fort.“

Der Survival-Mann wirkte betroffen – da hat er es ja im Unterholz leichter. Auf seine Frage, ob diese Arbeit nicht ernüchternd sei, antwortet Lindner mit Ja. „Aber aus der Ernüchterung darf nicht Frustration folgen. Sondern man muss sagen: Okay, ich bleib’ dran.“ Das wiederholt er wenig später, so, als könne er es sich und anderen nicht oft genug sagen: „Man muss dranbleiben.“

Ein paar Wochen später sagt er es so ähnlich auch im Gespräch mit der F.A.Z. Mitte April, halb acht abends, Lindner ist auf dem Weg zum Berliner Flughafen. Von da fliegt er nach Washington, zur Frühjahrstagung des Internationalen Währungsfonds. Aus dem Auto ruft Lindner an, pünktlich zur verabredeten Zeit. Erste Frage an ihn: Was ist Ihre entscheidende Lehre aus den vergangenen zweieinhalb Jahren als Minister? Lindner denkt kurz nach: „Demut. Regieren heißt Demut lernen. Das hat mit der Unmöglichkeit zu tun, alles zu steuern, damit, die Grenzen des eigenen Einflusses zu erkennen.“ Die EU zeige sie ebenso auf wie der Bundesrat oder das Bundesverfassungsgericht. „Auch die Arbeit in einer Dreierkoalition ist herausfordernd, weil immer wieder Kompromisse gefunden werden müssen.“ Dass es so ist, wusste Lindner zwar schon vorher. Aber vielleicht nicht, wie sehr.

Dranbleiben eben. Das sagt sich leicht, wenn es aufwärts geht. Aber für die FDP ist es seit der Bundestagswahl abwärts gegangen. Dranbleiben, durch zusammengebissene Zähne, sagt sich schon schwieriger. Vor allem, wenn es leicht klingen soll.

Einen Kampf ums Überleben kann man nur gewinnen, wenn man dran glaubt. Für diese Erkenntnis muss man kein Survival-Experte sein. Und weil Politiker nicht allein gewinnen können, sondern Parteifreunde und Wähler brauchen, müssen sie auch die überzeugen. In seinem Buch „Schattenjahre“ legte Lindner dies 2017 dar. Es handelt von der Zeit, als die FDP in der außerparlamentarischen Opposition ums Überleben kämpfte. Lindner schreibt, damals habe er sich verboten, vor seiner Partei, den Mitarbeitern und der Öffentlichkeit über „dunkle Gedanken“ zu sprechen, über Angst und Frust. „Wenn schon der Vorsitzende zweifelt und nachlässt, wie sollen dann andere sich motivieren und nicht das Weite suchen? Für jede Form der Führung ist die Voraussetzung, Sicherheit und Hoffnung vermitteln zu können.“

Das ist der Anspruch. Man könnte schlussfolgern: Lindner verstellt sich. Oder auch: Lindner führt. Politiker können viel erreichen, wenn sie Wahrscheinlichkeit zur Sicherheit erklären. Angela Merkels „Wir schaffen das“ war so ein Satz. „Wir können das schaffen“ wäre keiner gewesen. Ein Buch, das Eindruck auf Lindner gemacht hat, heißt „Staatsmann, Demagoge, Amtsinhaber“. Ein Sachbuch zweier Wirtschaftsforscher, erschienen 1985. Darin werden drei Typen von Politikern unterschieden. Der Demagoge nutze die Ängste der Menschen, um diese zu manipulieren. Der Amtsinhaber handle beamtisch in den Grenzen seiner Ängste und jener der Mitbürger. Der Staatsmann schließlich überwinde seine Ängste, um dann andere aus den ihren heraus zu mehr Freiheit zu führen.

Dunkle Gedanken in den Keller

Nicht in dem Buch steht: Auch Politiker, die schon viele Ängste überwunden haben, werden zuweilen von neuen befallen. Die müssen sie dann mit sich, ihrer Familie, ihren Freunden ausmachen. Ein Freund Lindners antwortet auf die Frage, wie er die Freundschaft zurzeit erlebe, dass das Schöne an Freundschaften sei, dass man sich auch mal anschreien könne.

Die Entscheidung für Zuversicht wirkt auf Außenstehende umso befremdlicher, je weniger Anlass sie erkennen können. Wirtschaftswende – wie denn? Noch anderthalb Jahre mit SPD und Grünen – was soll das bringen? Demnächst Wahlen im Osten – Himmel, hilf. Es ist eine Wette auf Zeit und Nerven. In der Limousine, auf dem Weg zum Flughafen, sagt Lindner auf die Frage, woran man am Ende der Legislaturperiode erkennen würde, ob die FDP ihr Ziel in der Regierung erreicht habe: „Das Kriterium wäre: Ist das Land, seit die FDP mitregiert, freier, fairer, wettbewerbsfähiger geworden? Stand heute würde ich sagen: ja. Fraglos noch nicht in dem Umfang, den wir uns wünschen würden. Aber wir sind ja noch nicht fertig.“ Dranbleiben auch hier, dunkle Gedanken in den Keller. Unkenrufen und Umfragen zum Trotz. Olaf Scholz ist so Bundeskanzler geworden.

Der hatte einen Plan fürs Überleben – und Glück. Ohne Glück geht es nicht. Wichtig außerdem: kapitale Fehler vermeiden. Aber was ist ein Fehler? Das weiß man oft erst später. Wie entscheidend ein Fehler ist, hängt wiederum nicht immer von seiner Größe ab. Siehe Laschets Lachen.

„Wissen, warum man es macht“

Immer öfter bestimmen die schrillsten Stimmen die Debatten. Die Frage, wie es dem Land geht, tritt zurück hinter die Frage, wie die Laune ist. Politiker wie Lindner müssen damit umgehen. Und je schlechter die Stimmung, umso schwerer, sie aufzuhellen.

Lindner sprach im Januar zu den Bauern. Das ging schief; die Bauern brüllten, als verabscheuten sie ihn, und Lindner redete, als wollte er ihnen gefallen. Die „Zeit“ schrieb, dies markiere einen Tiefpunkt in seiner Karriere. Die Linken-Vorsitzende Janine Wissler forderte seinen Rücktritt: Er sei als Minister untragbar geworden und habe sich „menschlich ekelhaft“ verhalten. Dass die AfD wieder einmal den Rücktritt der Regierung forderte, verstand sich von selbst. Klar, dass so Leute klingen, die Lindner auch vorher nicht gewählt hätten. Die Liberalen bewegt das dazu, sich noch dichter um ihren Vorsitzenden zu scharen. Zugleich sehen sie, wie klein ihre Schar ist.

Lindner fällt durchaus etwas ein, über das er sich im Rückblick ärgert. Allerdings ist es nicht sein Auftritt vor den Bauern. Am Telefon sagt er, er bedaure einen Fehler, der auf die Koalitionsverhandlungen zurückgehe. „Wegen der Zustimmung zum Plan meines Vorgängers, Pandemiekredite dauerhaft zu nutzen, musste ich ein Urteil des Verfassungsgerichts verantworten.“ Aus dem Fehler habe er gelernt, den Rufen nach Umgehungen der Schuldenbremse zu widerstehen. Lindners Vorgänger: Das war Olaf Scholz. Einen Chef, der gröbere Fehler macht als man selbst, hat niemand gern.

Allerdings ist die Frage nicht, was Lindner gern hat. Dass er sich durchbeißt, ist ja gerade Teil der Überlebensstrategie. Entscheidend ist, welchen der mühsamen Wege er für den zielführendsten hält. Also letzte Frage an Lindner im Auto, eine vielleicht zu große Frage für ein Telefonat auf dem Weg zum Flughafen, aber egal: Was ist es, das einen überleben lässt als Politiker und als Partei?

Christian Lindner antwortet darauf: „Wissen, wo man steht, und wissen, warum man es macht. Den Sinn sehen. Dann kann man alles durchstehen.“ Seitdem hat er immerhin schon wieder zehn Tage durchgestanden. Wie viele es noch werden, entscheidet sich jeden Tag neu.

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