Der lange Weg zur Rückkehr des britischen Lebensstandards

Die Briten sind zum Jahresbeginn nicht in Kauflaune, der Aufschwung bei den Umsätzen im Einzelhandel nimmt ab. Auch die Aussichten für die nahe Zukunft bleiben gedämpft. Dabei gibt es eigentlich Lichtblicke. Doch die Normalität ist noch ein gutes Stück entfernt, sagt ein Experte.

der lange weg zur rückkehr des britischen lebensstandards

Als „Nation of Shopkeepers“, das Land der Einzelhändler, soll einst Frankreichs Kaiser Napoleon Bonaparte die britische Insel abfällig bezeichnet haben. Die Zuschreibung ist umstritten. Sicher ist dagegen, dass Großbritanniens Händler zuletzt wenig Grund zur Freude hatten.

„Trübe“ sei die Stimmung auf den Einkaufsstraßen im Januar gewesen, sagte Linda Ellett, Analystin für Einzelhandel und Konsumgüter bei KPMG. „Größere Anschaffungen wie Möbel, Haus- und Elektrogeräte blieben rar, da die hohen Lebenshaltungskosten für ein drittes Jahr anhalten“, ergänzte Helen Dickinson, Geschäftsführerin des Branchenverbandes British Retail Consortium (BRC). Auch die zahlreichen Sonderangebote zum Jahresanfang konnten die Kauflaune kaum anheizen.

Zum Jahresanfang legten die Einzelhandelsumsätze laut Daten des BRC um 1,2 Prozent zu. Damit blieben sie sowohl hinter den 1,7 Prozent vom Dezember als auch hinter dem Drei-Monats-Durchschnitt von 1,9 Prozent zurück. Noch deutlicher war der Abstand zum aktuellen Stand zur Preissteigerung – vier Prozent sind die Verbraucherpreise im Dezember gestiegen. Das leichte Umsatzplus dürfte damit erneut einen Rückgang bei der Zahl verkaufter Produkte verschleiern, ein Trend, der inzwischen seit drei Jahren anhält.

Auch die Aussichten für das laufende Jahr bleiben gedämpft. Nach einer leichten technischen Rezession in der zweiten Hälfte 2023 rechnen die Experten des National Institute for Economic and Social Research (NIESR) mit einer Wachstumsrate von 0,9 Prozent 2024 und 1,2 Prozent im kommenden Jahr. Dabei bestehe ein nennenswertes Risiko für eine schlechtere Situation, warnen die NIESR-Analysten.

Das passe zum langfristigen Trend beständig nachlassender Wachstumsraten, sagte Ben Caswell, Volkswirt bei der Denkfabrik. Die Trendrate des jährlichen Wachstums hatte zwischen 1947 und 1973 noch bei 3,4 Prozent gelegen, in den drei folgenden Jahrzehnten bei 2,3 Prozent. Zwischen der Finanzkrise und dem Ausbruch der Pandemie schrumpfte der Wert auf 1,2 Prozent, inzwischen liegt er noch niedriger.

Immerhin: Es gibt auch Lichtblicke. Eine gute Nachricht sei, dass die Inflation endlich falle und sich zurück in Richtung des Zielwerts der Bank of England von zwei Prozent bewege, sagte Stephen Millard, für Makro-Modelle zuständiger Direktor bei NIESR. Da die Löhne zuletzt deutlicher gewachsen sind als die Preissteigerung und die Zentralbank erste Hinweise auf mögliche Zinsschnitte gibt, dürften die Haushalte auf der Insel ein wenig Aufwind spüren und eine leichte wirtschaftliche Verbesserung gegenüber dem Vorjahr fühlen.

Zeitpunkt der Zinssenkung noch unklar

„Doch angesichts des niedrigen Wirtschaftswachstums und hoher Kosten für Energie, Nahrungsmittel und Wohnen, erholen sich die Lebensstandards nur langsam und werden erst in weiteren drei Jahren wieder das Niveau von vor der Pandemie erreichen“, warnte Adrian Pabst, zuständig für politische Fragestellungen. Wie schon in den vergangenen Jahren dürfte der Aufschwung auch erhebliche Unterschiede nach Regionen und Einkommensgruppen aufweisen.

Angesichts der deutlich rückläufigen Preissteigerung hat sich auch in Großbritannien die Diskussion um mögliche Zinsschritte verschärft. Aktuell liegt der Zins bei 5,25 Prozent, nach einer Sitzung des geldpolitischen Ausschusses der Zentralbank in der vergangenen Woche blieb er unverändert.

Inzwischen stehe die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt für eine Kürzung im Vordergrund, nicht mehr, ob der Schritt überhaupt infrage komme, sagte Huw Pill, Chefvolkswirt der Bank of England am Montag. Swati Dhingra, Professorin für Volkswirtschaftslehre an der London School of Economics und externes Mitglied des geldpolitischen Ausschusses, warnte am Dienstag im Gespräch mit der „Financial Times“ bereits davor, dass die Zentralbank die Risiken für die britische Wirtschaft unterschätzen könnte.

Sie empfahl bei der Sitzung in der vergangenen Woche als einzige einen Zinsschnitt. Für ein Wiederaufflackern der Inflation sehe sie angesichts des gedämpften Nachfrageverhaltens der Haushalte keine Gefahr.

In den kommenden Wochen dürfte trotz der mageren Wachstumsaussichten der fiskalische Spielraum die Diskussion beherrschen. Auf der Insel stehen in den kommenden zwölf Monaten Wahlen an, die seit 2010 regierende konservative Partei liegt in Umfragen seit Monaten um bis zu 20 Prozent hinter der oppositionellen Labourpartei zurück. Viel ist jetzt die Rede von möglichen Steuersenkungen, zum Beispiel auf Einkommen oder Erbschaften.

„Wir würden empfehlen, den fiskalischen Spielraum nicht mit Werbegeschenken vor der Wahl zu vergeuden“, sagte Caswell. Stattdessen sollte das Geld für Investitionen genutzt werden, die langfristig die Produktivität steigern und Wachstumschancen verbessern. Infrastruktur gehöre dazu, unter anderem eine Verbesserung der Verkehrsanbindung von großen Landesteilen. Im Bildungssektor sollten besonders Naturwissenschaften und technische Qualifikationen in den Fokus rücken. Außerdem müsste der Wohnungsbau deutlich gefördert werden.

Mit diesen Empfehlungen sind die Volkswirte nicht allein. Erst vergangene Woche hatte der Internationale Währungsfonds (IWF) vor Steuersenkungen in Großbritannien gewarnt, nachdem die Organisation die Wachstumserwartungen für das Land auf 0,6 Prozent für das laufende Jahr reduziert hatte.

IWF-Chefökonom Pierre-Olivier Gourinchas verwies auf wachsende Bedürfnisse in der Gesundheits- und Altenversorgung, Bildung und bei Umweltfragen. „Es ist sehr wichtig, mittelfristig Haushaltspläne zu machen, die diesen Belastungen Rechnung tragen und gleichzeitig darauf achten, dass die Dynamik der Schulden stabil und in Grenzen gehalten wird.“

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