Gerichte ausgehebelt, Einwände ignoriert, Abgeordnete brüskiert: Die britische Regierung hat das Asylsystem durchlöchert und will sogar internationales Recht brechen. Aber ob sie damit noch einmal eine Wahl gewinnt?
Es war bereits nach Mitternacht, als die Lords und Baroninnen im britischen Oberhaus ihre tapfere Meuterei aufgaben. Die Stimmung in dem viktorianischen Prachtsaal an der Themse war gedämpft, es passte ins Bild, dass zwischenzeitlich der Strom ausfiel und es zappenduster wurde im Westminster Palace. Angesichts der nun unmittelbar bevorstehenden faktischen Abschaffung des britischen Asylrechts sprach einer der Widerständler nach einer achtstündigen Debatte von einer »Beerdigung«.
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Dann war es vorbei.
Nach einem monatelangen Kräftemessen mit den Abgeordneten der zweiten Parlamentskammer steht einer Ratifizierung des hochumstrittenen Ruanda-Gesetzes nun nur noch König Charles III. im Weg. Aber dessen Unterschrift, vermutlich Ende dieser Woche, ist reine Formsache.
In wenigen Wochen, jubilierte Regierungschef Rishi Sunak am Dienstagmorgen, werde man die ersten unerwünschten Flüchtlinge ohne jedes Asylverfahren nach Afrika ausfliegen. Danach soll es »jeden Monat zahlreiche Flüge« nach Ruanda geben – so lange, bis es kein einziger Mensch mehr wage, über den Ärmelkanal ins Vereinigte Königreich zu gelangen. Das, so Sunak, sei nicht nur »ein Schritt vorwärts«, sondern bedeute einen »fundamentalen Wandel« im globalen Umgang mit Migration.
Zumindest darin ist er sich sogar mit seinen schärfsten Kritikern einig.
Kernpolitik der Brexiteers
Selten hat die britische Politik so zäh und verbissen um ein Gesetzeswerk gerungen wie um Sunaks »Safety of Rwanda Bill«. Der Plan, Geflüchtete in Gewahrsam zu nehmen und umgehend in den autokratisch regierten Kleinstaat Ruanda abzuschieben, war noch unter Sunaks Vorvorgänger Boris Johnson ersonnen worden. Er war stets Kernpolitik jenes rechten Flügels innerhalb der konservativen Partei, für den der Brexit vor allem eine Übung in Nationalismus und Abschottung bedeutet.
Je kritischer die Briten den 2020 vollzogenen EU-Austritt beäugten, desto verbissener hielten die Brexiteers – darunter Sunak – an dem Vorhaben fest, wenigstens die Zahl der Einwanderer mit allen erdenklichen Mitteln zu drücken. Das auch deshalb, weil in diesem Jahr Wahlen anstehen und die in Umfragen hoffnungslos hinterherhinkenden Tories kein anderes Thema mehr haben, mit dem sie, vielleicht, Mehrheiten mobilisieren könnten.
Von Anfang an gab es zahllose fachliche, juristische und moralische Einwände gegen die faktische Aushebelung des Rechts auf Asyl. Vergangenes Jahr schritt dann sogar der Oberste Gerichtshof ein und erklärte die Ruanda-Pläne für illegal. Sie stellten gleich mehrfach den Bruch internationalen Rechts dar.
Statt aber einzuknicken, legte Sunak postwendend sein »Notstandsgesetz« vor, das Ruanda per Dekret zum sicheren Staat macht, Einspruchsmöglichkeiten auf ein Minimum reduziert und den Behörden die Befugnis gibt, heimische Gerichte zu ignorieren.
House of Lords auf verlorenem Posten
Am Ende war das House of Lords die verbliebene Bastion des Widerstands. Und das tat, im Rahmen eines »Ping Pong« genannten Verfahrens, sein Möglichstes. Ein ums andere Mal schickten die Lords und Baroninnen das Gesetz mit etlichen Änderungsvorschlägen zurück ins Unterhaus (House of Commons). Ein ums andere Mal lehnte die Regierungsmehrheit jedoch Kompromisse ab.
Zwei dringliche Forderungen der Oberhäusler standen am Montag noch zur Debatte: Ein unabhängiges Gremium möge prüfen, ob Ruanda wirklich sicher sei; und von einer unmittelbaren Abschiebung sollten wenigstens jene Menschen ausgenommen werden, die einst etwa als Dolmetscher in Kriegsgebieten wie Afghanistan für die britischen Streitkräfte gearbeitet hatten.
Auch das lehnte das Unterhaus ab. Und so fügte sich schließlich die zweite Kammer, die Gesetze nach britischer Konvention nur verzögern und verbessern, aber nicht verhindern kann.
In den kommenden Tagen soll nun ein mit der ruandischen Regierung geschlossener Vertrag über die Abschiebung bzw. Aufnahme Geflüchteter ratifiziert werden. Dafür wird London weitere 50 Millionen Pfund an Kigali überweisen, was die vorläufige Gesamtrechnung auf 340 Millionen Pfund (394 Millionen Euro) nach oben schraubt.
2200 Plätze in Abschiebegefängnissen hat die Regierung nach Sunaks Angaben bereits vorsorglich reserviert. 500 Staatsdiener seien für das Verfahren eigens ausgebildet worden.
Für etwaige gerichtliche Einsprüche – die Betroffene nur einlegen dürfen, wenn sie »erdrückende Beweise« für ihre Gefährdung im Abschiebefall vorlegen können – stehen 25 Gerichtssäle zur Verfügung. Mit kommerziellen Airlines sollen Abkommen geschlossen worden sein.
»Nichts steht uns mehr im Weg«
Das gesamte Vorhaben komme auch »verletzbaren Migranten« zugute, behauptete Sunak am Dienstag. Diese halte man dadurch von der gefährlichen Überfahrt in Schlauchbooten ab. Wie um ihn zu bestätigen, meldete die französische Küstenwache am Dienstag den Tod von fünf Menschen, die offenbar ertrunken sind.
Man werde das Geschäftsmodell krimineller Schleuser nun endlich zerschlagen, prophezeite Sunak. Und dabei werde man sich auch nicht vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beirren lassen, der einen ersten Abschiebeflug nach Ruanda 2022 per einstweiliger Verfügung gestoppt hatte. Ähnliches werde es diesmal nicht mehr geben, versprach Sunak, bevor er am Nachmittag zu einem Kurzbesuch in Warschau und Berlin aufbrach. Notfalls werde man Einwände des Gerichts ignorieren: »Nichts steht uns mehr im Weg.«
Ob das stimmt, werden die kommenden Wochen zeigen. Zum einen gibt es Hinweise darauf, dass bereits etliche Eingereiste in Erwartung des Ruanda-Gesetzes untergetaucht sind. Zum anderen meldete die Londoner »Times« soeben, die Beamten-Gewerkschaft FDA wolle in Kürze ein juristisches Gutachten vorlegen. Im Raum steht die Frage, ob Sunaks Aussage, man werde sogar den Menschenrechtsgerichtshof ignorieren, einer Aufforderung an Staatsdiener gleichkommt, internationales Recht zu brechen.
Uno-Beauftragte warnen
Außerdem ist nicht gesagt, ob zivile Luftfahrtunternehmen tatsächlich bei einem Spektakel mitmachen werden, das abscheuliche Bilder und unangenehme Nachfragen produzieren dürfte. Drei Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen warnten Airlines kürzlich bereits, sie könnten als »Komplizen« betrachtet werden, sollten sie Großbritannien helfen, internationales Recht zu brechen.
Und schließlich ist völlig unklar, wie viele Menschen das kleine Ruanda bereit ist aufzunehmen. In London gehen viele allenfalls von Hunderten aus. Und selbst diese Zahl könnte zu hoch gegriffen sein. Als aufnahmefähig gilt in Kigali derzeit nur ein größerer Hotelkomplex. Diverse andere Gebäude im einstmals vorgesehenen Viertel Bwiza Riverside sind zuletzt offenbar an ruandische Käufer veräußert worden.
Sunak und die Tories scheint das alles, bislang jedenfalls, kaltzulassen. Sie brauchen dringend einen Erfolg im Wahlkampf. Und glaubt man Medienberichten, dann wird Ruanda womöglich nicht das einzige Land bleiben, in das Geflüchtete postwendend abgeschoben werden sollen.
Die Regierung, hieß es jüngst, führe bereits seit dem vergangenen Jahr Erfolg versprechende Verhandlungen mit Armenien, Costa Rica, der Elfenbeinküste, Botswana und weiteren Staaten in der südlichen Hemisphäre.
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