Frankreichs Präsident fordert in einer Grundsatzrede mehr Souveränität und Stärke für Europa. Wie das im Einzelnen aussehen soll, lässt er aber offen. Im Amphitheater der Universität Sorbonne geht es ihm auch mehr um sein Vermächtnis.
Großer Auftritt: Emmanuel Macron in der Sorbonne via REUTERS
Der Ehrgeiz Emmanuel Macrons vor seiner Rede im Amphitheater der Sorbonne-Universität in Paris war groß: Mit einer Wiederauflage seiner historischen Rede von 2017 wollte der französische Präsident Erfolge betonen, ohne sich auf ihnen auszuruhen, Führungsanspruch aufzeigen, ohne die europäischen Partner zu verprellen, Kontinuität ausstrahlen und zugleich Aufbruchsstimmung erzeugen.
„Unser Europa könnte sterben. Ob das passiert, hängt von den Entscheidungen ab, die wir jetzt treffen“, sagte Macron am Donnerstag vor Politikern, Intellektuellen, Studenten und europäischen Botschaftern. Mehrmals wird er diese Warnung bemühen, als disruptives Element, das sich durch seine Rede zieht. Für Kontinuität soll sein Auftritt in den Hallen der ehrwürdigen Universität stehen. Frisch zum jüngsten Präsident der französischen Geschichte gewählt, stellte der 39-jährige Macron hier schon einmal seine Vision eines unabhängigen Europas vor und manifestierte seine Rolle als Führungsfigur Europas, die bis heute ihresgleichen sucht.
Im Amphitheater der Universität Sorbonne skizziert Emmanuel Macron seine Vision für Europa als selbstbewusstere Weltmacht dpa
Als wegweisend galt damals etwa die Vision einer europäischen Armee und die Entwicklung des Konzepts der „strategischen Autonomie“. In der Retrospektive bewahrheiteten sich Macrons Forderungen nach mehr Souveränität. Die Corona-Pandemie und der russische Überfall auf die Ukraine zeigten auch die Risiken der Abhängigkeit von autokratischen Regimen wie Russland und China schonungslos auf. Die Neuauflage der Rede, inoffiziell als Sorbonne 2.0 bezeichnet, findet indes in einer Welt statt, die sich radikal verändert hat. „Die Krisen, die wir durchlebt haben, haben uns geeint. Aber der Kampf ist noch nicht gewonnen. Das Risiko ist immens, geschwächt oder abgehängt werden. Die Verwerfungen sind evident“, so Macron.
Mehr als je zuvor steht für den Präsidenten die Frage von Sicherheit und Verteidigung im Zentrum. Die größte Gefahr für die Sicherheit Europas sei der Krieg in der Ukraine, Macron schlug etwa eine europäische Militärakademie vor. Europa müsse die Cybersicherheit stärken und die Rüstungsindustrie fördern. „Wie können wir unsere Souveränität, unsere Autonomie aufbauen, wenn wir nicht die Verantwortung übernehmen, unsere eigene europäische Verteidigungsindustrie aufzubauen?“, gab der Präsident zu Bedenken.
Wie diese aussehen soll, bleibt offen. Doch Macron sieht sich ohnehin als Impulsgeber. Teil der europäischen Sicherheitsarchitektur sollen auch eine unabhängige Energiewirtschaft, Innovationskraft und der freie Handel sein, in dem sich ein vor Bürokratie überbordendes Europa nicht selbst benachteiligt. Auch einen Ausbau der Atom-Allianz schlägt Macron vor. Stand bei seiner alten Rede noch die Frage der strategischen Autonomie im Zentrum, ist es nun die Frage des europäischen Machtanspruchs, die den Präsidenten umtreibt. „Wird Europa eine innovative Macht sein oder nicht? Das entscheidet sich jetzt. Wird Europa eine einflussreiche kulturelle Macht sein? Nur, wenn wir es wollen.“
Immer wieder bemüht Macron das Bild der „Spielregeln“, an die sich Mächte wie die USA und China etwa im Wettbewerb um die wirtschaftliche Vorherrschaft längst nicht mehr hielten. Wann immer er eine chinesische Übermacht betont, nennt er die USA im selben Atemzug. „Die USA denken zuerst an sich selbst. Das ist legitim.“ Europa aber dürfe kein „Vasall“ der USA sein, so Macron, der damit eine kontroverse Äußerung aus dem vergangenen Jahr wiederholte. Macrons Strategie scheint es zu sein, Worst-Case-Szenarien zu zeichnen und Europa dazu zu bewegen, sich seiner Macht bewusst zu werden. „Ein mächtiges Europa ist ein Europa, das sich Respekt verschafft und für seine Sicherheit sorgt“, so Macron. Seine Rede oszilliert zwischen Untergangsstimmung und Weckruf.
Spricht Macron leidenschaftlich über den Schutz der europäischen Zivilisation und des Humanismus, das Erbe der Aufklärung, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit, geht die Mischung aus Pathos und kühlem Pragmatismus auf. „Unser Europa liebt sich selbst nicht“ ist der niederschmetternde Höhepunkt seiner Warnungen. Es brauche einen „Paradigmenwechsel“ und ein „Ende der Naivität“.
Doch während die großen Linien in der Verteidigungspolitik und seiner flammenden Rede für den europäischen Humanismus mehr als deutlich werden, sind lange Strecken seiner zweistündigen Rede von kleinteiliger Kritik geprägt. Etwa bei der Agrarpolitik, die Auslöser gewalttätiger Bauernproteste in ganz Europa war. Macron gelingt es anders als 2017 nicht, originelle Konzepte für die Zukunft aufzuzeigen. Dem Spannungsfeld aus nationalen Egoismen und europäischer Solidarität kann er sich nicht entziehen.
Das könnte auch daran liegen, dass sich der nach unpopulären Reformen zunehmend unbeliebte Macron innenpolitischen Zwängen ausgesetzt sieht. In seiner Rede ringt Macron darum, den Franzosen, das zu geben, was sie beanspruchen. Eine Führungsrolle und mehr nationale Souveränität in einem starken Europa.
Ein bemühtes Gleichnis
Nationale Akzente versucht Macron auch im Bereich der Migrationspolitik zu setzen, wenn er den Schutz der Grenzen hervorhebt. Visionäre Ideen stellt Macron jedoch nicht vor – zuweilen wirkt es, als ob er Kritik seines mächtigen Konkurrenten, dem rechtsnationalistischen Rassemblement National (RN), zuvorkommen will, der Macrons Vision von Europa unterläuft, ihn aber in Umfragen überflügelt.
Macrons 2017 bemühtes Gleichnis von „Nationalisten“, die Europa schadeten und „Progressiven“, die die Zukunft der Union seien, verfängt im heutigen Europa nicht mehr. Die wenigsten rechtsnationalistischen Parteien propagieren offen einen Austritt aus der EU. Der RN verfolgt das Konzept eines „Europa à la carte“, in dem sich Mitgliedstaaten aussuchen, welche Regeln sie verfolgen.
Französische Journalisten hatten spekuliert, ob seine Rede dem lahmenden Europawahlkampf mit der eher blassen Spitzenkandidatin Valérie Hayer Leben einhauchen soll. Der RN liegt in Umfragen deutlich vorn, Macrons Renaissance-Partei muss sogar um den zweiten Platz im Europaparlament fürchten, seit die Sozialisten nach oben drängen. Macrons Berater bemühten indes vorab das Bild, dieser habe die Agenda der sich nach den Wahlen zusammenfindenden neuen EU-Kommission beeinflussen wollen.
Doch es ist Macron selbst, der die Europawahlen als „nationale Abstimmungen“ bezeichnet. Bewahrheiten sich die Prognose, wäre das für Macron eine große Niederlage. Womöglich war die Rede auch ein Versuch des Präsidenten, bereits jetzt an seinem politischen Vermächtnis zu arbeiten. In drei Jahren endet seine zweite und letzte Amtszeit, erneut antreten kann er nicht.
News Related-
Schneefall im Thüringer Wald: Langlaufstrecken präpariert
-
Wetter in Bayern: Mehrere Unfälle nach Wintereinbruch - neuer Schnee erwartet
-
Neue Preisregeln für Streamingdienste und keine Nummernschilder für Tesla
-
Wintereinbruch im Vogtland führt zu Behinderungen bei Bahn
-
Schneefall und rutschige Straßen: Wintereinbruch sorgt für Glätteunfälle in Brandenburg
-
Verspätungen und Ausfälle bei Berliner S-Bahn
-
Nordkorea räumt erstmals seit über 50 Jahren Gegenstimmen bei Wahlen ein
-
BR Volleys wollen sich in Ankara «gut aus der Affäre ziehen»
-
Beliebte Modefirma Shein beantragt Börsengang
-
5,5 Millionen Menschen heizen aus Geldmangel nicht angemessen
-
GfK-Barometer: Konsumlaune der Deutschen hellt sich auf – minimal
-
FOKUS 1-Novartis will nach Sandoz-Abspaltung stärker wachsen
-
Studierendenzahl sinkt zweites Jahr in Folge - aber mehr Erstsemester
-
Umfrage - Nur 35 Prozent glaube an bessere Regierung mit Union