Türkei-Besuch des Bundespräsidenten: Erdoğan zuletzt

Bei seinem Besuch in der Türkei trifft Frank-Walter Steinmeier Präsident Recep Tayyip Erdoğan erst am letzten Tag. Geredet wird vor allem mit der Opposition.

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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu Besuch in der Türkei

Warten auf den Bundespräsidenten. Der bekannteste Historiker der Türkei, İlber Ortaylı, sitzt in einer Ecke im Hauptgebäude des Istanbuler Kopfbahnhofs Sirkeci, trinkt Tee und erzählt nebenbei von der Geschichte des Gebäudes. Er wird ständig gerufen, wenn ausländische Staatsgäste zu Besuch sind und soll gleich Frank-Walter-Steinmeier durch den alten Bahnhof führen.

In sieben Jahren Amtszeit ist es das erste Mal, dass der Bundespräsident in die Türkei kommt. Anlass ist das 100-jährige Jubiläum der deutsch-türkischen Beziehungen. Mitten im Zweiten Weltkrieg unterzeichneten die Regierungen beider Länder einen Freundschaftsvertrag – der auch als Nichtangriffspakt fungieren sollte. Was ist heute von dieser Freundschaft geblieben? Der Historiker Ortaylı schüttelt den Kopf, lacht und steht auf. Steinmeier solle gleich da sein.

Bahnhof als Symbol der Freundschaft

Den historischen Bahnhof hat er sich bewusst als erste Station mit Symbolcharakter ausgesucht: Entworfen von einem deutschen Architekten war hier früher die Endstation des legendären Orient-Expresses. Ab den Sechzigerjahren reisten ab hier Hunderttausende Türken als Gastarbeiter nach Deutschland. Sirkeci stehe für den Aufbruch ins Unbekannte, sagt Steinmeier in einer Ansprache: “Dieser Bahnhof ist ein steinernes Symbol für die jahrzehntelange Verbindung, die wir miteinander teilen.”

Als der Bundespräsident aber aufs Gleis tritt, wird der Bahnhof zum Symbol von bilateralen Differenzen: Am gegenüberliegenden Gleis haben sich etwa zwei Dutzend Protestierende versammelt. Sie halten eine Palästina-Flagge und Schilder, die Steinmeiers Kopf neben dem von Hitler und dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu zeigen. “Mörder Deutschland!”, skandiert die Menge ununterbrochen. Es dauert ungewöhnlich lange, bis die Polizei die Demonstranten zum Schweigen bringt. In der Türkei gehört das Bekenntnis zum palästinensischen Volk mittlerweile zur ungeschriebenen Staatsräson – wie in Deutschland das Bekenntnis zum Existenzrecht Israels.

Erst am Wochenende empfing der türkische Staatspräsident herzlich und mit Umarmung den Hamas-Auslandschef Ismail Hanija. Beobachter der Szene am Bahnhof in Istanbul rätseln: War der hetzerische Sprechchor ein versteckter Willkommensgruß Recep Tayyip Erdoğans? Steinmeier kümmert sich nicht um das Geschrei und lauscht weiter den Worten des Historikers Ortaylı. Der macht genauso unbeirrt mit seiner Führung weiter.

Krieg in Gaza holt Steinmeier ein

Später erklärt der Bundespräsident im Gespräch mit ZEIT ONLINE, dass solch ein Protest ihn nicht überrascht hat: In der Türkei würden immerhin viele Palästinenser leben, die mit der Not derjenigen fühlen, die gerade im Gazastreifen leiden. Gleichzeitig betont Steinmeier, dass die Protestierenden offenbar zwei Dinge nicht wüssten: “Wie sehr sich Deutschland seit Jahrzehnten um eine Zweistaatenlösung bemüht und wie sehr wir in dieser Krisensituation zu den Staaten gehören, die die meiste humanitäre Hilfe leisten.”

Doch darum soll es heute nicht gehen. Im Mittelpunkt stehen die Millionen türkischstämmigen Menschen in Deutschland. Im Bahnhof Sirkeci trifft Steinmeier sich mit einigen, die nach vielen Jahren im Ausland zurück in die Türkei gegangen sind. Hier sind ihre Geschichten aber nie zum großen Thema geworden. Aufarbeitung für ihre Fragen nach Identität oder Anerkennung für ihre Leistungen in Deutschland gibt es in ihrem Herkunftsland kaum. Das gemeinsame Erinnern solle nun die gegenseitige Wertschätzung fördern, meint Steinmeier.

Zwischen Opposition und Erdoğan

100 Jahre deutsch-türkische Beziehungen sind ein Grund zum Feiern. Doch wie angespannt die Beziehungen gleichzeitig sind, erklärt Delegationsmitglied und CDU-Sicherheitspolitikerin Serap Güler im Gespräch auf einer Bootsfahrt vom Bahnhof zur Sommerresidenz des deutschen Botschafters: “Unsere Freundschaft ist eingefroren.” Güler findet, dass Deutschland eine neue Türkei-Strategie braucht. Das Ziel: eine intensive, strategische Partnerschaft. “Nur indem wir mehr miteinander reden, können wir Einfluss auf die Türkei ausüben, damit sie ihrer Verantwortung nachkommt”, sagt er.

Geredet wird auf dieser Reise vor allem mit Vertretern der Opposition: In Istanbul begrüßt der Oberbürgermeister, Ekrem Imamoğlu, die Gäste, ist bei der Führung durch den Bahnhof, den Gesprächen mit der deutsch-türkischen Community und dem gemeinsamen Döneressen am späten Nachmittag dabei. Der Politiker gilt unter Regierungskritikern als Hoffnungsträger für eine Türkei nach Erdoğan. Mit Kommentaren zu seiner Person hielt Steinmeier sich in einem ersten Pressestatement betont zurück. Im Zweiergespräch wird der Bundespräsident dagegen deutlicher: “İmamoğlu ist ohne Zweifel ein Politiker der jungen Generation, der seine Aufgabe ernst nimmt und ohne Hochmut ist.”

Türkische Kommentatoren wittern Verschwörung

Nach Istanbul reist die Delegation am Dienstag in den Südosten, der vor mehr als einem Jahr von verheerenden Erdbeben zerstört wurde. Am Mittwoch stehen dann politische Gespräche in Ankara auf dem Plan: Zuerst mit dem Oberbürgermeister dort: Mansur Yavaş, ebenfalls von der Opposition und ebenfalls eine Symbolfigur für alle, die gegen Erdoğan sind. Danach gibt es ein Treffen mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Für den Abend sind Gespräche mit dem Führer der größten Oppositionspartei, Özgür Özel, angesetzt.

Für die regierungsnahen Medien im Land ist all das ein bisschen zu viel Opposition. Ohne dass Steinmeier auch nur ein direktes, politisches Machtwort gesprochen hat, hat er in den türkischen Medien bereits am ersten Tag für Furore gesorgt. Manche Kommentatoren fragen, ob die Reise ein Zeichen einer Verschwörung gegen die amtierende Regierung sein soll. Andere kritisieren, dass Steinmeier nicht zuerst Erdoğan getroffen hat. Doch das war schon aus Termingründen nicht möglich. Als der Bundespräsident in Istanbul landete, brach der türkische Staatspräsident zu einem Besuch in den Irak auf.

In der deutschen Delegation verteidigt man die Reisepläne derweil: “Dass wir uns von Istanbul über die Erdbebengebiete nach Ankara hin bewegen, hat schon eine politische Botschaft”, sagt Finanzminister Christian Lindner im Gespräch mit ZEIT ONLINE. Auch er gehört zur Delegation und will sich darum kümmern, dass das bilaterale Handelsvolumen wächst. Von welcher politischen Botschaft spricht Lindner? Der FDP-Politiker muss nicht lange nachdenken: “Es wird nicht nur auf Ankara und das Zentrum geschaut, sondern auf das ganze Land und die Vielfalt in der Politik.”

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